Hockenheim. 85 Jahre ist es her, dass in Hockenheim und ganz Deutschland in der Nacht des 9. November Synagogen geplündert und in Brand gesteckt wurden. Am 22. Oktober 1940 wurden unzählige jüdische Mitbürger mit Zügen der Deutschen Reichsbahn ab Mannheim nach Frankreich ins Internierungslager Gurs verschleppt und im Sommer 1942 von dort aus in Viehwaggons ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. In einem Gedenkgottesdienst am Donnerstagabend in St. Christophorus wurde an die Hockenheimer Jüdinnen und Juden erinnert, die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden. Eingeladen hatte der Arbeitskreis jüdische Geschichte und die christlichen Kirchen in Zusammenarbeit mit der Stadt.
Alexander Levental am Klavier leitete den Gedenkgottesdienst unter dem Leitgedanken „Erinnern - Gedenken - Versöhnen“ mit dem Lied „Donna Donna“ ein. „Am Anfang waren es nur Worte. Auch als die Scheiben der jüdischen Geschäfte und Häuser zerbrachen, waren sich viele noch sicher: Alles nur Parolen. Am Anfang waren nur Worte, doch die Lawine kam ins Rollen. Eine Lawine, die alles unter sich begraben sollte, was bisher galt. Mitten in Europa“, führte Almut Lansche von der evangelischen Kirchengemeinde aus.
Das Bläserensemble des Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasiums mit Sarah Scholz, Elias Dorn und Tim Schaufler unter der Leitung von Bernhard Sommer spielte das Lied „Achas Shoalti“. Gemeindereferentin Daniela Gut von der katholischen Seelsorgeeinheit begrüßte die Besucher zu einem Abend, „an dem wir an das Leid denken, dem das Volk Gottes ausgesetzt wurde“. Die Erinnerung möge wachgehalten werden, die Menschen mögen achtsam und wachsam bleiben im Gedenken an diese Nacht vor 85 Jahren: „Im Gedenken und im Glauben, dass ihre Namen in der Hand Gottes nie ausgelöscht waren, wollen wir sie heute erinnern. Es sind so viele, die mitten unter uns lebten.“
Oberbürgermeister-Stellvertreter Fritz Rösch betonte die Erinnerung an das Leid und die Zerstörung, die damals verursacht wurden, auch als eine Mahnung für die Zukunft: „Es ist wichtig, dass wir uns bewusst machen, dass diese Gräueltaten von Menschen begangen wurden, die von Hass und Vorurteilen getrieben wurden.“ Die schreckliche Nacht des 9. November „markiert den Anfang eines abscheulichen Kapitels in der Geschichte Hockenheims und ganz Deutschlands“. Man müsse sich heute „entschieden gegen Rassismus, Antisemitismus und jede Form von Diskriminierung stellen“, meinte Rösch. Hass und Vorurteile dürften niemals wieder so viel Leid und Zerstörung verursachen wie damals: „Es liegt in unserer Verantwortung, sicherzustellen, dass sich solche Ereignisse nie wiederholen.“ Man sollte auch diejenigen ehren, die in der Reichspogromnacht „mutig geholfen haben, ihre jüdischen Mitbürger zu schützen“, die sich „gegen den Hass erhoben und ihr Leben riskierten, um anderen zu helfen“, mahnte Rösch die Gemeinde: „Die Geschichte sollte uns lehren, dass wir die Vergangenheit nicht ändern können, aber wir haben die Verantwortung, die Zukunft zu gestalten.“ Man möge aber auch heute alle Opfer und Leidtragenden nicht vergessen, die gerade jetzt untere Flucht, Vertreibung und Unterdrückung leiden, bat er um ein kurzes Innehalten.
Pogromgedenken in Hockenheim: Den Menschen ein Gesicht geben
Alexander Levental spielte „Bei mir bist du scheen“, bevor Felicitas Offenloch-Brandenburger vom Arbeitskreis jüdische Geschichte mit der Bildpräsentation „Sie lebten mitten unter uns“ den ehemaligen jüdischen Mitbürgern ein Gesicht gab. Sie erinnerte dabei an Menschen, die Familien gründeten, Geschäfte eröffneten und Mitglieder in Vereinen waren. An Menschen, die beim Bau der Rennstrecke mithalfen, die freudig im Tanzkurs und begeisterte Wandersleute im Odenwaldclub waren. Die alten Fotos zeigten damalige Hockenheimer Mitbürger.
Um 1933 gehörten jüdischen Familien noch mehrere Textilgeschäfte, Viehhandlungen, ein Kaufhaus und Zigarrenfabriken. Das Textilgeschäft Seligmann Türkheimer war in der Unteren Hauptstraße 10, das Kaufhaus Reichert mit dem Inhaber Leopold Wertheimer an der Ecke Rathausstraße. Am frühen Morgen des 22. Oktober 1940 forderte die Gestapo in Baden die völlig überraschten Jüdinnen und Juden auf, ihre Sachen zu packen und sich für den Abtransport bereitzuhalten. Rund 5600 Frauen, Männer und Kinder fuhren in neun Sonderzügen Richtung Frankreich. Die Reise ging in das Internierungslager Gurs in der Nähe der Pyrenäen. Am 1. Januar 1938 wurden noch 35 jüdische Einwohner in Hockenheim gezählt, am 1. Januar 1939 noch 27, unmittelbar vor der Deportation nach Gurs im Oktober 1940 noch sieben. 1942 wurde Hermann Maier in Auschwitz ermordet, ebenso wie Jenny und Eugen Fromm. Zigarrenfabrikant Albert Hockenheimer und seiner Frau gelang die Flucht in die USA. Felicitas Offenloch-Brandenburger redete in ihrem Fazit Tacheles: „Hockenheim nimmt bei der jüdischen Integration eine besondere Stellung ein. Erst die Nazis beendeten das durchaus friedfertige Miteinander.“
Pogromgedenken in Hockenheim: Bewegende Zeitzeugentexte
Das Bläserensemble spielte das Stück „Flee as a bird“. „Es brennt! Es brennt! Und keiner löscht! Auch in Hockenheim brannte es und keiner hat gelöscht“, sagte Klaus Brandenburger vom Arbeitskreis jüdische Geschichte. Die Gemeinde hörte bewegende Zeitzeugentexte, die von den Schülern Finja Treutlein, Mirjam Gut und Paul Treutlein vorgetragen wurden. „Obwohl es mir meine Eltern nicht erlaubten, schaute ich aus unserem Dachfenster und sah die meterhohen Flammen der brennenden Synagoge“, las Almut Lansche vor.
Klaus Brandenburger berichtete: Nach dem Synagogenbrand feierten die Nationalsozialisten ausgelassen ihren Erfolg im Sturmlokal „Zum Badischen Hof“ in der Adolf-Hitler-Straße. Die jüdische Gemeinde musste 500 Reichsmark als Entschädigung für die niedergebrannte Synagoge bezahlen und auf den Grund und Boden verzichten. Für den Synagogenrat unterzeichneten Sally Adelsberger und Seligmann Türkheimer die Verzichtserklärung.
Mit einem Moment der Stille und des persönlichen Gedenkens betete die Gemeinde für die Menschen, „deren Namen auf keinem Grabstein stehen, weil ihr Name in eine Nummer, ihr Leben in Rauch aufgelöst wurde“. Daniela Gut bat, den Verfolgten zur Seite zu stehen: „Zeigen wir uns solidarisch mit allen Opfern von blinder Gewalt und Terrorismus. Beten wir voller Hoffnung und Zuversicht für eine bessere Welt.“ Im Wechsel betete die Gemeinde: „Wo ist die Liebe, Gott? Hörst Du mich?“. Am Klavier spielte Alexander Levental das Kirchenlied „Freunde, dass der Mandelzweig“.
Pogromgedenken in Hockenheim: Eine weitere traurige Nachricht
Klaus Brandenburger dankte Diakon Reinhold Weber, der am Gurs-Gedenktag am 22. Oktober verstorben und am Reformationstag am 31. Oktober in Schwetzingen beerdigt worden war, für sieben Jahre Mitwirken beim Pogromgedenken „als Brückenbauer zwischen Christentum und Judentum“.
Brandenburger hatte eine weitere traurige Nachricht: Der 1935 nach Marseille ausgewanderte und 1941 in die USA emigrierte Rudolf Martin Hockenheimer (heute Ralph M. Hockley), der letzte Überlebende der Familie Hockenheimer aus der Vorkriegszeit, war am Vortag in seiner Heimatstadt Dallas in Texas 97-jährig gestorben. Brandenburger dankte allen, „die sich dafür einsetzen, dass die Erinnerung wachgehalten wird, dass das Leid und die Schicksale der vielen uns unserer Verantwortung mahnen und erinnern“.
Mit Gottes Segen ging die Gemeinde in die Nacht hinaus. Das Bläserensemble intonierte „Schalom chaverim“. Mit dem gemeinsam gesungenen „Hevenu Shalom Alechem“ (Wir wollen Frieden für alle) endete die Andacht in St. Christophorus. Die Gottesdienstbesucher gingen zum Gurs-Gedenkstein am Parkplatz zwischen Rathaus und katholischer Kirche.
Hier stand einst die Synagoge. In der Nacht zum 10. November 1938 hatten SA-Männer die Fenster eingeschlagen und das Gebetshaus als Herz jüdischen Lebens in Hockenheim bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Zur Erinnerung an die Hockenheimer Jüdinnen und Juden wurden kleine Steine auf dem Gedenkstein abgelegt.
„Wo war Gott in Auschwitz“, sei der britische Großrabbiner Jonathan Sacks gefragt worden, war an diesem Abend auf dem Programmblatt des Gedenkgottesdienstes zu lesen. „Er war dort im Gebot Du sollst nicht töten“, habe der Rabbi geantwortet: „Wir sollten uns aber eher die Frage stellen: Wo war der Mensch in Auschwitz, was haben denn die Menschen aus sich gemacht, wenn sie dazu fähig waren, solche Verbrechen zu begehen?“.
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