Ketsch. Queer sein ist kein Phänomen großer Städte. Das sogenannte „Anderssein“ ist auch keine schnöde Laune, keine schnelle und leichtfertige Entscheidung. Lesben, Schwule, Bi- und Asexuelle, Trans-Menschen – queere Menschen leben überall, auch in kleinen Städten und Orten auf dem Land. Und da nicht im gesicherten Raum. Denn sie werden auch hierzulande immer noch befremdlich angeschaut, angepöbelt, verfolgt, diskriminiert, tätlich angegriffen und erfahren Hass und Gewalt.
Vor einigen Jahren haben sich queere Menschen zusammengetan und die Initiative Dorfpride gegründet. Das ist eine Demonstration für die Rechte und Sichtbarkeit queerer Menschen in kleinen Gemeinden. Dieses Event findet inzwischen jedes Jahr in einer anderen Gemeinde statt – und diesmal am Samstag, 7. September, in Ketsch. In Vorbereitung dazu trafen sich Bürgermeister Timo Wangler, Hauptamtsleiter Ulrich Knörzer und Mitglieder des Gemeinderats mit dem Organisationsteam von Dorfpride – vertreten durch Susanne Hun, Patrick Nike Alberti, Sarah Kinsebach und Vanessa Seidel.
Dorfpride in Ketsch: Ein CSD im ländlichen Raum
„Wir, die Gemeinde Ketsch, unterstützen den Dorfpride“, sagte Bürgermeister Wangler entschlossen und wies darauf hin, dass im Vorfeld bereits Organisatorisches wie die Präsenz von Feuerwehr, Polizei, Sanitäter und so weiter geklärt worden seien, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten.
Die Dorfpride ist ein Christopher- Street-Day (CSD) im ländlichen Raum. Auch wenn sie vielleicht auf den ersten Blick bunt und schrill sein mag, so handelt es sich um eine politische Veranstaltung der LGBTQ+-Community. Patrick Alberti erklärte wofür die Buchstaben stehen: lesbisch – schwul (gay) – bisexuell – transgeschlechtlich oder intergeschlechtlich – queer und mehr, kurzum: alle „nicht-heteronormative Lebensweisen“. Es seien Abweichungen von heterosexuelle Beziehungen und Identifikationen, die weitläufig als „normal“ betrachtet werden. LGBTQ+ stehe für Liebe, sexuelle Orientierung, aber vor allem Identität und komplette Lebensentwürfe.
Forderungskatalog von Dorfpride
Gezieltes Vorgehen gegen Gewalt an queeren Menschen und Präventionsarbeit im Rhein-Neckar-Kreis (Einrichtung Runder Tisch, Präventionsprogramme, Unterstützung Betroffener).
Die Einrichtung von kostenlosen Beratungsstellen für queere Menschen – und zwar überall, nicht nur in den großen Städten.
Das Etablieren von Safer Spaces, also Treffpunkte und Orte für queere Menschen – in jedem Dorf.
Die Einrichtung von queerer Jugendarbeit, um queeren jungen Menschen Sicherheit, Zuversicht und Empowerment zu bieten.
Weiterbildung und Sensibilisierung in Bezug auf queere Themen für Lehrkräfte, Beschäftige in der Verwaltung und andere relevante Stellen, um die Ungleichbehandlung von queeren Menschen überhaupt erst verstehen zu können und dann dementsprechend handeln zu können.
Das Dorfpride-Team gab einen historischen Überblick über die Entstehung von CSD und Dorfpride. Der erste Christopher-Street-Day fand 1969 in Greenwich Village, einem Stadtteil von New York City statt, nachdem sich Dragqueens, transsexuelle Latinas und Schwarze gegen die wiederkehrenden, willkürlichen Kontrollen durch die Polizei wehrten. Der Aufstand damals verlief nicht friedlich, wurde aber zum internationalen Gedenktag. 1977 soll in Stockholm der erste „Befreiungstag der Schwulen und Lesben“ in Europa mit etwa 400 Demonstrationsteilnehmern stattgefunden haben. In Deutschland gibt es seit 1979 regelmäßig CSD-Veranstaltungen.
Dorfpride in Ketsch ist bereits die fünfte ihrer Art
Dorfpride wurde 2020 zum ersten Mal in Mühlhausen im Kraichgau veranstaltet; danach folgten Oftersheim (2021), Ladenburg (2022) und Wiesloch (2023). Ketsch wird also die fünfte Veranstaltung dieser Art sein und man rechnet mit gutem Zuspruch, Interesse und Akzeptanz, wie es auch in den anderen Veranstaltungen der Fall war.
Das Dorfpride-Team legte eine Statistik vor, wonach die Zahl der Betroffenen im Schnitt elf Prozent der Bevölkerung ausmache. Berüchtigt sei darin ein Altersgefälle, wonach die Babyboomer den kleinesten Anteil hatten und die Generation Z am häufigsten vertreten waren; diesen Umstand führten sie darauf zurück, dass sich die Jüngeren eher outen.
Intersektionalität: Mehrfache Diskriminierung und Schutzbedarf
Susanne Hun appelliert an die Gemeindevertreter: „Sie sind dafür da, dass Menschen gut leben können.“ Und weiter: „Wir wollen dort leben, wo wir sind, wo wir aufgewachsen sind, wo wir herkommen.“ Nach der Hass- und Gewalterfahrung, die queere Menschen immer wieder machten, stehe der Wunsch nach Schutz ganz oben. Besonders notwendig sei dies, wenn Menschen mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt seien, zum Beispiel wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft, Sprache, Behinderung und weil sie irgendwie „anders aussehen“; man spricht hier von Intersektionalität, was wiederum neue Formen von Diskriminierung beinhalte.
Um Anfeindungen und Schmähungen zu entgehen, um nach Übergriffen und Attacken ernst genommen zu werden, seien neutrale Anzeigestellen wünschenswert; das seien queerfreundliche Vertrauenspersonen, die sich aber auch mit Gesetzeslagen auskennen.
Prekäre Lage: Zahlen von Bundeskriminalamt und Bundesinnenministerium
Dass die Lage in Deutschland nach wie vor prekär ist, zeigen Zahlen von Bundeskriminalamt und Bundesinnenministerium; demnach wurden im vergangenen Jahr 1499 Fälle im Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung und 854 Fälle bei der geschlechtsbezogene Diversität gemeldet.
Den Schutz, den queere Menschen bislang erhalten, sei privat, führte Susanne Hun aus, zum Beispiel im Freundeskreis, durch Nachbarn und Bekannte und die Wahlfamilie der queeren Community, die jedoch noch eher in Städten wie Mannheim und Heidelberg zu finden seien. Und natürlich seien dedizierte Beratungsstellen hilfreich. „Dorfpride sensibilisiert und macht Mut, sich selbst zu sein“ bekannte Patrick Alberti und verwies auf eigene Erfahrung.
Dorfpride hat einen Forderungskatalog formuliert mit mehreren Schwerpunkten. Darüber hinaus stehe die queere Community ein für ein Selbstbestimmungsgesetz, bei dem man bei einer zuständigen Behörde seinen Personenstand ändern, neuen Vornamen und Geschlecht angeben kann. In Viernheim sei das bereits möglich.
Ablauf und Infostände: Dorfpride in Ketsch
Der Dorfpride beginnt um 12 Uhr mit einem „Meet & Greet“ auf dem Ketscher Marktplatz. Um 14.30 Uhr beginnt die Demo mit einer Startkundgebung und Redebeiträgen; die Parade setzt sich um planmäßig eine Stunde später in Bewegung und endet um 18.30 mit einer Abschlusskundgebung.
Es wird mehrere Stände geben, zum Beispiel von Ilse, der Gruppe queerer Eltern, Amnesty International, die immer wieder auf katastrophale Situationen von queeren Menschen in vielen Ländern der Welt hinweist und sich wehrt, vom queeren Dorfstammtisch, der sich nach der ersten Dorfpride in Mülhausen gründete. Das Team ermuntert die Bevölkerung zum Mitmachen, zum Beispiel durch Aufhängen oder Auslegen von Regenbogenfahnen, zum Mitfeiern auf den Straßen, zum Mitgestalten.
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