Ketsch. Ein Abend unter Freunden, unter Weggefährten, die sich in den „Buch und Manufakturwaren“ einfanden, um Rainer Wedlers Kurzprosa zu lauschen – so ließe sich das Zusammensein an diesem Abend in einem Satz beschreiben. Nach dem Gedichtband „Was sind wir mehr als Buchstaben“ aus dem vergangenen Jahr dieses Mal also Prosa: „Gebietsweise Aufhellungen“– so der Titel, erschienen im Ludwigsburger Pop-Verlag, den der mehrfach – zuletzt mit dem Preis der Vontobel-Stiftung Zürich – ausgezeichnete Autor vorstellte.
31 Kurzgeschichten versammelt der Band, in den die Literaturwissenschaftlerin Sandra Schuppert einführte. Ein Stück herausgerissenes Leben, das sei die Kurzgeschichte, zitierte sie Wolfdietrich Schnurre. Sie starte in „medias res“, typisch sei ein lakonischer Sprachstil, dem sich auch Wedler bediene. Er mache nicht mehr Worte als nötig, wähle sorgsam aus. Wie ein Gemälde seien seine Geschichten, wie getupft, nie aber mit dem breiten Pinsel gearbeitet.
Ernest Hemingways Eisbergmodell als Analyseinstrument in Ketsch
Man merke dem Autor die Lust am Fabulieren und Experimentieren an, seine Geschichten seien prägnant, intensiv – Alltagssituationen, die zuweilen ins Bizarre und in die Groteske gleiten. Schuppert bemühte auch das hemingwaysche Eisbergmodell, um sich der Materie zu nähern.
Ein Eisberg sei deshalb so anmutig, weil nur ein Achtel über Wasser sei, was wiederum bedeute, dass der Leser den Bedeutungsgehalt erschließen müsse, er autonom sei und die Hoheit über den Text besitze.
Wedler las gut eine Stunde, am Klavier wurde er begleitet von Franka Hellmann, die Werke von Rachmaninoff, Bach und die Eigenkomposition „Ohne Worte“ spielte.
Es ertönen beeindruckende Klavierklänge auf höchstem Niveau in Ketsch
Sie hatte sich nicht nur inhaltlich mit den Texten auseinandergesetzt und dazu passende Stücke ausgewählt, sondern spielte auch auf beeindruckend hohem Niveau und verzückte die Zuhörer.
Wedler hatte fünf Kurzgeschichten mitgebracht und gab damit einen breiten Einblick in sein Schaffen. In „Warum fahren sie so schnell?“ ging es um eine skurrile Taxifahrt, bei der sich eine Autorin in keiner Weise so verhielt, wie man es angesichts ihrer Berühmtheit erwartet hätte. In einer anderen Geschichte schlug ein Mann „aus Liebe“ seinem Vordermann im Theater kurzerhand den Kopf ab. Der Hintergrund dabei ist bemerkenswert alltäglich: Seine Frau beklagte sich seit 30 Ehejahren, dass im Kino oder Theater bei jedem Besuch stets ein zu großer Mann genau vor ihr sitze.
Der Justiz bot Rainer Wedler ebenfalls die Stirn. In „Hui Buh“ wurde ein Ziegenbock zum besten Freund zweier Frauen, und das hatte Folgen, obwohl die Richterin selbst liebend gern mit ihrem Hund kuschelte. Ihr Fazit: „Das Tier wurde nicht artgerecht gehalten, das ging so weit, dass der Ziegenbock, sagen wir es vorsichtig, ein auf den Menschen geprägtes Sexualverhalten zeigte.“ In „Fichtengefechte“ wiederum stritten zwei Nachbarn vor Gericht um das Dasein einer Fichte, die unter anderem auch „als Turngerät für Weitsprungwettbewerbe einheimischer Eichhörnchen“ von sich reden machte.
Kurzprosa in Ketsch: Von Mobbing, Prügelstrafe und "Brillennazis"
In die Vergangenheit führte die Geschichte „Fang mich doch“, ein Titel, der eine unverfängliche Kindheitsgeschichte vermuten ließ, es dann aber faustdick hinter den Ohren hatte. Mobbing, Scham, Prügelstrafe in der unmittelbaren Nachkriegszeit leuchteten auf, eine Zeit, in der Brillen Mangelware waren und Gestelle von Gefallenen kurzerhand wieder vergeben wurden, weshalb der neue Träger als „Brillennazi“ verspottet wurde.
Nach dieser sehr berührenden Geschichte war Wedler kräftiger Applaus sicher. Sein Dank ging an die Manufakturen-Inhaberin Gabriele Hönig, bevor er Bücher signierte und der Abend bei Wein und Häppchen ausklang.
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/orte/ketsch_artikel,-ketsch-rainer-wedler-mit-kurprosa-und-klavierbegleitung-in-ketsch-_arid,2216773.html