Oftersheim. Klar, aus der Perspektive Welt scheint Deutschland bei den Kinderrechten gut aufgestellt zu sein. Aber – und das war bei der Podiumsdiskussion rund um den Landtagsvizepräsidenten Daniel Born (SPD) im Bürgersaal allgemeiner Tenor – der Kontrastraum Welt ist trügerisch. Auch in Deutschland gebe es rundum Armutsgefährdung, Gewalt und Bildungsgerechtigkeit in Bezug auf die Verwirklichung von Kinderrechten große Baustellen.
Deutlich zutage traten diese Baustellen bei der Pandemiebekämpfung. Die Maßnahmen, so die SPD-Bundestagsabgeordnete Jasmina Hostert, die auch Mitglied im Familienausschuss ist, zeigten wie ein Brennglas auf bestehende Defizite. Die Belange von Kindern und Jugendlichen seien auf der politischen Entscheidungsebene fast durchweg unter den Tisch gefallen.
Schlimm fand Birgit Schreiber, Vorstandsmitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinderinteressen, dass die Interessen der Kinder institutionell null verankert waren. Nur so sei ein Entscheid wie die Schließung von Spielplätzen möglich gewesen. Ihre Bewertung hierzu fiel sehr kurz aus: „Irrsinn.“ Auch wenn sich in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten einiges in die richtige Richtung entwickelt habe, wirklich in allen Aspekten umgesetzt, so auch der Leiter des UNICEF-Büros in Heidelberg, Klaas Uphoff, sei die 1989 verabschiedete UN-Konvention über die Rechte der Kinder noch lange nicht. „Wenn man genauer hinschaut, sind die Risse nicht zu übersehen.“
Kinderrechte seien etwas Existenzielles
Neben Born, Hostert, Schreiber und Uphoff saßen auch noch der Leiter des Kinderschutzzentrums Heidelberg und des Rhein-Neckar-Kreises, Volker Schuld, sowie Tanja Tischmeyer, Leiterin der inklusiven Kindertagesstätte in Hockenheim, auf dem Podium, das sich in knapp zwei Stunden zu einem beachtlichen Leuchtturm für den Ist-Zustand der Kinderrechte in Deutschland entwickelte. Für die Bundestagsabgeordnete Hostert haben Kinderrechte etwas Existenzielles. Sie selbst wurde im Bosnienkrieg als Kind schwer verwundet. Die Bilder von leidenden Kindern aus der Ukraine, dem Jemen, aus Israel, Gaza, dem Sudan und so vielen anderen Ländern haben für sie eine besondere Wucht.
Ihre Überzeugung, dass Kinderrechte ins Grundgesetz gehören, wurde dadurch jedenfalls noch verstärkt. Es wäre in ihren Augen ein mächtiges Zeichen. „Immerhin ist das Grundgesetz unsere höchste Wertordnung.“ Vielleicht würde die Politik dann endlich noch massiver gegen die Kinderrechtsverstöße vorgehen. „Jedes fünfte Kind ist von Armut betroffen, jedes fünfte in einem der reichsten Länder der Erde.“
Ein Zustand, der auch Schuld immer wieder erschüttert. Zum Glück seien die Zeiten vorbei, in denen Kinder und Familie auf der politischen Ebene als Gedöns belächelt worden seien. Für die Zukunft der Demokratie gehöre das Thema Kinderrechte ganz oben auf die politische To-do-Liste. Dass das nötig sei, mache unter anderem das Thema Schulabbrecher deutlich. Seit Jahren kratzt die Zahl der Schüler, die die Schule ohne wenigstens einen Hauptschulabschluss verlassen, an der Marke von 50 000. Das entspricht, so eine Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm für die Bertelsmann Stiftung, einer jährlichen Quote von knapp über sechs Prozent. Für 2022 verzeichnet das statistische Bundesamt sogar eine Quote von fast sieben Prozent. Eine verheerende Bilanz, sowohl für die jungen Menschen als auch die Gesellschaft.
Und dann sei da auch noch der eklatante Zusammenhang zwischen Elternhaus und Bildungserfolg. Tischmeyers Urteil fällt dann auch klar aus: „Das Recht auf Bildung wird in Deutschland nicht durchweg eingelöst.“ Auch das Versprechen der Gewaltfreiheit sei sowohl weltweit als auch in Deutschland noch lange nicht Wirklichkeit.
Nach Schätzungen von Unicef erleiden weltweit drei von vier Kindern zwischen zwei und vier Jahren Gewalt durch Eltern und Erziehende. Und in Deutschland meldeten die Jugendämter im Jahr 2022 insgesamt 62 300 Kindeswohlgefährdungen. Das sind vier Prozent mehr als 2021 und damit ein neuer Höchststand.
Kinder und Jugendliche mehr miteinbeziehen
Ein wichtiger Punkt, da waren sich alle einig: Die Perspektive der Kinder und Jugendlichen müsse viel mehr miteinbezogen werden. Ganz praktisch, so Hostert, „einfach fragen, wie sie es sich vorstellen und das ernst nehmen“. Die Erfahrung von Demokratie könne man nicht früh genug machen.
Als Beispiel bringt Schreiber die Stadtplanung auf den Tisch. Sie sei das komplette Gegenteil von kindgerecht. „Alles ist durchgeregelt, nirgends Freiräume und so können sich Kinder oft nicht ausprobieren.“ Wenn man Kinder fragen würde, da waren sich hier alle sicher, würden Städte anders aussehen. Nicht selten wohl deutlich menschenorientierter. Die Idee, Jugendgemeinderäten nicht nur ein Anhörrecht zu gewähren, sondern ein Vetorecht, genoss am Ende der Veranstaltung im Bürgersaal einige Sympathien.
Vielleicht wäre dann auch das EU-Lieferkettengesetz von der FDP nicht boykottiert worden. Immerhin gehe es dabei, so die SPD-Bundestagsabgeordnete Hostert, ganz zentral um den Schutz für Kinder und Jugendliche vor wirtschaftlicher Ausbeutung. Auch dabei gelte: Mehr mit und vor allem mehr vom Kind her denken. Das dürfte der Welt zum Vorteil gereichen.
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