"Kleine Sterne"

Oftersheimerin hilft mit Sozialprojekt Kindern in Brasilien

Seit 2014 hilft die Oftersheimerin Katrin Bugert in Sao Paulo bedürftigen Kindern und auch 2023 hat das Projekt „Kleine Sterne“ Widrigkeiten gemeistert. Denn einfacher wird es nicht für die Jugendlichen.

Von 
Regina Klein
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Insgesamt sind es 170 Kinder und Jugendliche, die das Projekt „Kleine Sterne auf Erden“ mittlerweile betreut. Einige davon engagieren sich auch im „Circus Sternbrücke“, den Katrin Bugert mitbetreut und der sogar durch Brasilien tourt. © Bugert

Oftersheim/Sao Paulo. Seit über 20 Jahren lebt die Oftersheimerin Katrin Bugert in Südamerika. Und seit 2014 ist sie dort mit für das Projekt „Circus Sternbrücke“ verantwortlich, das mit dem Kindersozialprojekt „Pequenas Estrelas Na Terra“ – zu deutsch „Kleine Sterne auf Erden“ eng vernetzt ist und das auch zu Beginn des neuen Jahres wieder auf zwölf sehr ereignisreiche und bewegende Monate zurückblickt.

„Wir sind versammelt in unserem schönen großen Saal, vor der Krippe, der ganze Raum ist voller Kinder in allen Altersgruppen. Wir haben bereits unser Adventslied gesungen und nun warten die Kinder auf die Geschichte der so sehnlichst erwarteten Weihnacht.“ So beginnt der Jahresbericht der Einrichtung.

Gemeinschaft an Weihnachten in Brasilien

Das Weihnachtsfest sei zugleich der Jahresabschluss in der Tagesstätte, vor den großen Sommerferien – man bedenke: Brasilien liegt auf der Südhalbkugel – und sei mit viel Liebe und vielen Händen vorbereitet worden. Die Erzieherinnen haben die Kinder mit Geschichten, Kreis- und kleinen Theaterspielen eingestimmt, die Köchinnen zauberten das Festessen, Putzkräfte ließen alles glänzen, die Jugendlichen schmückten den Baum, die Krippe ist aufgebaut mit Steinen und Muscheln aus aller Welt, und den geliebten Krippenfiguren, handgemacht. Alle zusammen machen Musik, das kleine Orchester der Jugendlichen und alle Kinder und Erwachsenen singen für die Tiere und die Krippe und für das Christuskind, das geboren wurde.

Katrin Bugert bei der Arbeit mit Kindern in Sao Paulo. Seit 2014 ist sie für das Projekt „Circus Sternbrücke“ verantwortlich, das eng mit dem Kindersozialprojekt „Kleine Sterne“ verbunden ist. © Burgert

Regina Klein stellt den Kindern eine Frage: „Was ist denn nun eigentlich das größte Geschenk, das uns dazu bringt, jedes Jahr zu feiern, sich all die Arbeit zu machen, zu schmücken, singen, Geschenke einzupacken – und das schon tausende von Jahren?“ Die Erwachsenen meinen „die Liebe“, die Jugendlichen „Zusammensein, Gemeinschaft“.

Das Jahr bei den „Kleinen Sternen“ begann mit der Eröffnung einer neuen, sehr besonderen Gruppe. Mit der Hilfe treuer Helfer, der Aktionsgruppe „Kinder in Not“(KIN), die das Projekt seit Beginn unterstützt, konnten eine Arbeit beginnen, von der die Verantwortlichen schon viele Jahre träumten, die aber auch ein besonderes Maß an Vorbereitung, Vorsicht, Professionalität und Mittel brauchte – die Arbeit mit seelenpflegebedürftigen Kindern. „Wir nennen sie unsere besonderen Kinder“, heißt es im Bericht.

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Es sei nötig gewesen, zwei Grundstückparzellen zu vereinen und ein Gebäude grundständig umzubauen, um es behindertengerecht zu machen. Es dauerte ein Jahr, um Raum und Team vorzubereiten und Kontakt mit Schulen, Sozialamt und dem psychosozialen Dienst des Stadtteils aufzubauen. Im April ging es los mit 14 neuen Kindern. „Es gibt zehn Plätze in der Morgen- und zehn Plätze in der Nachmittagsgruppe“, so Bugert. Natürlich bringe eine neue Arbeit auch neue Herausforderungen mit sich. Eine der Überraschungen sei gewesen, dass bald nach der Eingewöhnung die Kinder anstatt zu schreien, um sich zu schlagen, zu beißen oder auszubrechen, „ihr Zuhause“ liebten, verteidigten und sich in beängstigenden Situationen in ihren neuen Schutzraum zurückzogen – „weil die Kinder die Liebe spüren, mit der sie empfangen werden“, heißt es im Bericht.

Immer häufiger Traumata bei Jugendlichen

Seit 1994 arbeiten die Verantwortlichen des Projekts in den südlichen Randgebieten São Paulos, „dieser Stadt, die gerne mit einem urbanen Krebsgeschwür verglichen wird.“ Es erscheine so gut wie unmöglich in dieser Stadt zu leben und zu arbeiten, unter diesen Umständen. „Wir arbeiten mit traumatisierten Kindern in Lebensgefahr. Und die Wahrheit ist, dass wir dieses Detail fast alle Tage vergessen, denn es wäre nicht möglich mit diesem Bewusstsein der allgegenwärtigen Gefahr zu arbeiten“, schreibt Regina Klein in ihrem Rückblick. „Alles Schlechte, was wir uns vorstellen können, trifft diese Familien und Kinder. Misere, Mangel an Nahrung, an Hygieneprodukten, unwürdige Unterkünfte, eingepfercht in Favelas, gefährliche Regionen, wo die Mächtigsten der Zone regieren und die Gesetze machen.“

Als Konsequenz erscheinen Symptome im Leben der Kinder: Drogenabhängigkeit und Abstinenz im Säuglingsalter, Hyperaktivität, Aggressivität, Angst, Schlaf- und Essstörungen, Lernblockaden, Verzögerung der Entwicklung, frühreife Sexualität, Missbrauch, Prostitution und sogar Selbstmord. Die Psychologin der Einrichtung behandele immer mehr jüngere Kinder und in der Jugendgruppe gebe es häufiger psychiatrische Krankheitsbilder zu sehen. Die tiergestützte Therapie für Kinder, die nicht auf gesprächsorientierte Angebote ansprechen, müsste sehr viel mehr von ihnen aufnehmen, als im Moment möglich sei.

Mitte des Jahres nahmen die Verantwortlichen am Fest zum 40-jährigen Bestehen der Aktionsgruppe KIN teil. Besonders schön sei es gewesen, dort auch an die eigene Geschichte zu erinnern, die mit diesem Fest verbunden ist. „Wir begannen mit fünf und betreuen heute 170 Kinder.“ Die ersten Besucher der Tagesstätte führen heute als Leiter und Lehrer die Kindergruppen.

Am eindrücklichsten wird das Leid in Sao Paulo aber letztlich an den Einzelschicksalen: „Im vergangenen Jahr begleiteten wir Graziellas Familie durch eine Krise“, schreibt Regina Klein. Als langjährige Nutzerin chemischer Drogen kam sie an den Punkt, am liebsten ihr Leben und ihre vier Kinder aufzugeben. Die Helfer machten den Vorschlag, ihre Kinder für eine gewisse Zeit in vorübergehendem Sorgerecht zu übernehmen, damit sie Zeit für eine Therapie habe. Die Kinder wurden auf Gastfamilien innerhalb des Teams verteilt, versorgt und mit finanzieller Unterstützung der Aktionsgruppe konnte Graziella nach zehn Monaten Therapie ihr Leben als Mutter und ihre Kinder wieder übernehmen.“ In Momenten wie diesem werden wir daran erinnert, welch ein Siegeszug, wie grandios es ist, einfach nur zu überleben“, so Klein.

Brasiliane Jugendliche auf Flucht vor dem Leben

„Unsere Jugendlichen, so hat es oft den Anschein, leben regelrecht auf der Flucht vor diesem Leben – vor dem größten Geschenk“, schildert Klein weiter. Im Projekt hatten sie es in diesem Jahr mit einer Welle von Anorexie und Bulimie, mit extremer Handyabhängigkeit und Lustlosigkeit zu tun. „Noch nie führten wir so viele Gespräche über das Dasein – was bedeutet es, nicht da sein zu wollen, nicht zu leben, nicht den Körper annehmen zu können“, erinnert sich Klein in dem Bericht.

In dem Moment, in dem sie nach dem größten Geschenk frage, sind es ausgerechnet die Jugendlichen, die prompt antworten „Gemeinschaft, Familie, Zusammensein“ – vielleicht weil das, wovor sie fliehen, das ist, was sie am allermeisten wünschen, mutmaßt die Autorin.

2023 zogen die Organisatoren mit ihrer Jugendgruppe zweimal auf Tournee, um das Circusprogramm „Imagina – Stell dir vor“ aufzuführen. Zum einen sei die Bühnengeschichte so aktuell, dass Freunde baten, sie doch noch weiterzutragen, zum anderen hatten einige Orte diese Aufführung noch nicht gesehen. „Und so reisten wir Anfang des Jahres in den Süden Brasiliens, erlebten innerhalb von 14 Tagen unglaubliche Gastfreundschaft und lernten neue Orte kennen. Im Oktober konnten wir weitere zwei Wochen viele Abenteuer auf der Reise Richtung Bundesstaat Minas Gerais erleben, Erlebnisse und Begegnungen haben, die durch nichts zu ersetzen sind“, blickt Regina Klein auf eine besondere Zeit zurück.

Achterbahnfahrt der Gefühle für das Sozialprojekt der Oftersheimerin

„Während der Reisen trafen wir fantastische Menschen und wir wurden gefeiert wie Könige, Künstler, die ihre Botschaft auf die Bühne bringen: In der letzten Szene nach Jonglage, Einrädern, Clowns, Seilspringen steht jeder Artist mit seinem kleinen leuchtenden Feuer in der Hand – in diesem Moment geschieht das Wunder: Die Augen leuchten – selbst die der Jugendlichen, die nicht mehr essen, nicht wirklich das Leben annehmen wollten“, berichtet die Autorin bewegend. Der Applaus wurde dankbar angenommen, und alles andere, „der gemeinsame Weg, die Anstrengung, das gelebte Leben – in diesem Moment macht alles Sinn.“

Doch es gab auch negative Seiten: „Zum ersten Mal mussten wir uns mit einem Konflikt um Vorurteil und Diskriminierung in unserer Arbeit auseinandersetzen. Für uns war klar, dass unsere Tagesstätte Platz und Raum für jede Art von Erscheinung, jeden Lebensstil, jede Farbe, jeden Glauben ist – bis plötzlich Kinder aus den Gruppen abgemeldet wurden, nachdem ein Personalwechsel stattfand.“ Zunächst subtile Situationen hätten sich zugespitzt, wurden aggressiv und emotional, sodass eine große „Runde der Erklärung und Heilung“ nötig geworden sei. Darin wurde auch klar, dass es sich um religiöse Diskriminierung gehandelt habe und das „ausgerechnet in diesem kunterbunten Land mit einem Mix aus Kulturen und Religionen und Kulten aus aller Welt“, bedauert Klein.

Religiöse Diskriminierung großes Thema in Brasilien

„Es war wie ein großes Ausatmen in der Runde, zu sehen, wie viele unterschiedliche Religionen und Lebensphilosophien wir in unserem Mitarbeiterkreis haben und auszutauschen, was eigentlich der Kern jedes Ansatzes ist. Es tat auch gut, einmal klar und deutlich aussprechen zu können, dass bis heute Religionen, die ihren Ursprung in afrikanischen oder indianischen Kulturen haben, oder ihre Mischformen, zwar laut Gesetz geschützt sind, das aber in keiner Weise in Land und Volk gelebt wird und wir weit entfernt sind diese Religionen und Kulturen als Kulturgut natürlich in den brasilianischen Körper des Landes integriert zu sehen“, so Kleins Einschätzung der Lage.

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Dennoch stand das große Weihnachtsfest an. „Mit strahlenden Augen singen die Kinder das Lied von all den Tieren, die kommen, um das Christkind in der Krippe anzubeten. Sie haben die Botschaft verstanden: Um Liebe, Zusammensein, Gemeinschaft, Fest und Geschenke zu erhalten, müssen wir als erstes Geschenk das Leben selbst erhalten“, fasst Klein den Grundgedanken zusammen. Und so nahmen die Jugendlichen am Festessen teil, respektierten sich gegenseitig – „andere Religionen, besondere Kinder, die Wege des Lebens, die nicht unserer ersten Vorstellung entsprechen – und all das mit Dankbarkeit im Herzen, weil die Dinge genau so sein müssen, wie sie sind.“

Zum Ende des Jahresberichts fasst Klein noch einmal zusammen, was die Verantwortlichen den Kindern in ihrer Obhut vermitteln wollen: „Wir können nur in diesem Moment leben und tun, was uns das Beste erscheint, und das Beste, was uns in genau diesem Moment gelingt – zusammen mit den Menschen, die uns das Leben in diesem Moment geschickt hat, die um uns sind. Denn nur hier mit unserem Leben auf dieser Erde, in diesem Moment können wir uns treffen, lieben und zusammen feiern – die große Geburt und das große Geschenk des Lebens.“

Musik gehört entschieden zum Konzept der Einrichtung in Sao Paulo dazu. © Katrin Burgert

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