Reilingen. „Bleiben Sie gesund“. Dies war nicht nur der Schlusssatz von Dr. Stefan Reschke bei der Veranstaltung in der Aula der Schillerschule, es war auch sein bester Tipp. An diesem Abend ging es um „die hausärztliche Versorgung heute und morgen“ und angesichts des Szenarios, das von Dr. Michael Eckstein und Reschke beschworen wurde, ist jeder Patient gut beraten, selbst auf seine Gesundheit zu achten, gemäß dem Bonmot vom täglichen Apfel, der den Weg zum Doktor erspart.
Wobei Dr. Reschke mit seinem Ratschlag die Prävention im Sinn hatte, denn angesichts der Zivilisationskrankheiten Übergewicht, Alterszucker oder Rückenbeschwerden, um nur einige Beispiele zu nennen, hat es jeder selbst in der Hand, mithilfe von Sport und der Ernährung für seine Gesundheit zu sorgen. Was wiederum für Entspannung in den immer rareren Wartezimmern der Hausärzte sorgen dürfte.
Aula in der Schillerschule platzt aus allen Nähten
Bürgermeister Stefan Weisbrod, der im Namen der Gemeinde und des Rates zu der Veranstaltung eingeladen hatte, zeigte sich zu Beginn über zwei Umstände besonders verwundert – zum einen reichten die aufgestellten Stühle bei Weitem nicht, weitere Sitzgelegenheiten mussten en masse in die Aula gebracht werden. Zum anderen waren es nicht nur die „Alten“, die sich des Themas annahmen, auch viele junge Besucher wurden angelockt.
Noch vor zehn, 20 Jahren hätte er sich nicht träumen lassen, einmal als Gemeinde zu einer solchen Veranstaltung einzuladen, bekannte Weisbrod, doch mittlerweile brenne es vielen Kommunen unter den Nägeln. „Der Fachkräftemangel macht vor den Ärzten nicht halt“, wusste der Bürgermeister, für den Weihnachten und Ostern auf einen Tag fielen, als er die Nachricht erhielt, dass sich für die Praxis von Dr. Eckstein in der Person von Dr. Reschke ein Nachfolger gefunden habe.
Eckstein, der vor 25 Jahren in die Gemeinde kam, als er die Praxis von Prof. Dr. Georg Härter übernahm, sprach angesichts des proppenvollen Saals von einem Heimspiel – „ich kenne fast jeden hier“. Womit er in wenigen Worten zusammenfasste, was vielen Menschen heute noch beim Begriff Hausarzt durch den Sinn geht: der Mediziner als Lebensbegleiter, Hausbesuche inklusive.
Eckstein, der sich zugleich als Verbandsfunktionär für seinen Berufsstand einsetzt, stellte seinen Redebeitrag unter die Überschrift „Versorgung in Zeiten knapper Ressourcen“. Von dieser könne man sich schon heute in den Wartezimmern ein Bild machen, doch die Situation werde sich zuspitzen, machte der Arzt mit wenigen Zahlen deutlich: In Baden-Württemberg gebe es derzeit 7000 Hausärzte, 40 Prozent davon seien über 60 Jahre alt, 20 Prozent über 65 Jahre und der Altersdurchschnitt liege bei 56 Jahren.
Ein Fünftel der Praxen bald weg
Mit anderen Worten: Demnächst wird ein Fünftel der Hausärzte sich aus dem Berufsleben verabschieden – „das hätte man sich schon vor 20 Jahren an den Fingern abzählen können“ – gegengehalten worden sei nicht, der ärztliche Nachwuchs könne den Abgang nicht abdecken. Im Gegenteil, in der Summe würden in Baden-Württemberg jährlich 350 Hausärzte weniger gezählt.
Mit ausschlaggebend hierfür sei, dass die Baby-Boomer, zu denen auch die Ärzte zählen, in Rente gingen. Ein Rückgang an Fachkräften, der alle Branchen treffe, nicht nur die Medizin, so Eckstein, der zu den geburtenstarken Jahrgängen zählt. Einen makabren Trost hatte er: „Wenn wir alle in 20, 25 Jahren tot sind, wird sich die Lage wieder entspannen.“
Hinzu komme, so Eckstein, dass immer mehr Hausärzte in Teilzeit arbeiten wollen, lieber als Angestellte in eine Praxis gehen, als selbst eine zu eröffnen. Mit der Folge, dass die Wochenarbeitszeit schrumpft. Statt um die 50 Stunden in der Woche bei den Inhabern kämen die angestellten Hausärzte im Schnitt auf 24 Wochenstunden.
Kurzum, so der Mediziner, immer weniger Hausärzte stünden immer mehr Patienten gegenüber. Wenn nun mehr junge Menschen Medizin studieren würden, sei dies mittelfristig keine Lösung, erst in rund anderthalb Jahrzehnten könnten sie als Hausärzte aus der Misere helfen.
Digitalisierung schafft Freiraum
Einer der „jungen Hausärzte“, die es noch gibt, ist der 40-jährige Dr. Stefan Reschke, der seit sechs Jahren in der Gemeinde wohnt, der eine Hausarztpraxis in Walldorf übernommen hat. Auch er habe damals vor der Frage gestanden: Klinik oder Praxis, schildert Reschke, der nach einem ersten Abtasten schnell vom Berufsbild des Hausarztes fasziniert war, den der direkte Kontakt mit den Menschen am meisten anspricht. Und als er im vergangenen Jahr angesprochen wurde, ob er nicht die Praxis von Dr. Eckstein übernehmen wolle, „habe ich mich breitschlagen lassen“. Seit 1. April ist er nun auch Hausarzt in Reilingen, Dr. Eckstein arbeitet noch teilzeitmäßig mit, lässt sein Berufsleben aber langsam ausklingen.
Reschke, der Facharzt für Allgemein- und Notfallmedizin sowie Flugmedizin ist, schilderte die Probleme, vor der die Praxen aktuell stehen würden. Ihm persönlich komme die Flugmedizin zu Hilfe, zwischen 500 und 600 Piloten würden jährlich in seiner Walldorfer Praxis durchgecheckt – ein wichtiges finanzielles Standbein.
Denn aktuell habe der Hausarzt mit Herausforderungen von zwei Seiten zu kämpfen: steigende Patientenzahlen, der demografische Wandel samt der Zunahme chronisch kranker Menschen sowie die Folgen des Klimawandels auf der einen Seite, steigende Kosten, die Budgetierung der ärztlichen Tätigkeit sowie der Fachkräftemangel - „ohne medizinische Fachangestellte (MFA) geht bei uns nichts“ - auf der anderen Seite. Hinzu komme die mit Anstieg der Krankenkassenbeiträge steigende Anspruchshaltung der Patienten und nicht zu vergessen die wuchernde Bürokratie, so Reschke.
Gebühren nicht kostendeckend
Mit zahlreichen Statistiken zeigte er auf, dass von den zehn bis 14 Stunden, die er Tag für Tag in seine Arbeit investiert, kaum mehr Zeit für die Patienten bleibe. Unzählige Anrufe und E-Mails würden Zeit verschlingen, 50 Patientenkontakte täglich, Rezepte und Überweisungen – ein Mehr sei nicht mehr darstellbar. Seine Antwort: die Digitalisierung der Praxis. E-Rezept und E-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen seien nur der Anfang, Videosprechstunden und ein digitales Praxismanagement weitere Schritte. Dadurch werde das Arbeiten effizienter, müsste nicht mehr jeder grippale Infekt ins Wartezimmer getragen werden.
Ein weiteres Problemfeld sei das Regelleistungsvolumen, das mit den Kassenärztlichen Vereinigungen abgerechnet werden kann, ein ständiges Damoklesschwert für die Praxen. Mit der Folge, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Sprechstunden auf ein Minimum reduziert würden, wie auch die medizinischen Leistungen. Grundsätzlich, so Reschke, sei die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) nicht kostendeckend.
Sein Ratschlag: Zusatzversicherungen oder Teilnahme am Hausärzteprogramm können für den Patienten Lösungen sein und vor allem sei es wichtig, selbst auf seine Gesundheit zu achten, Sport und Ernährung den Bedürfnissen anzupassen. Wenn er sich dann auf die „richtig“ kranken Patienten konzentrieren, mit guter Medizin helfen und davon leben könne, dann könne er so arbeiten, wie er es am liebsten macht: „sorgenfrei und mit Spaß“, betonte Reschke und verabschiedete sich mit einem „Bleiben Sie gesund“. Die Reilinger dürften es mit Freude gehört haben – die Hausarztversorgung in ihrer Gemeinde steht erst einmal auf sicheren Füßen.
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