Schwetzingen. Die Oper „Nebucadnezar“ des Hamburger Barockkomponisten Reinhard Keiser (1674 – 1739) wird am Samstag, 1. Dezember, im Schwetzinger Rokokotheater uraufgeführt. Die renommierte Blockflötistin Dorothee Oberlinger, die auch als Dirigentin tätig ist, hat die musikalische Leitung. Im Gespräch erläutert sie, was das Besondere an der Aufführung dieses Stoffes ist, in dessen Mittelpunkt ein mächtiger Herrscher – der König Babylons – steht, der das Volk Israel nach alttestamentlicher Geschichtsschreibung ins Exil führte. Mit der Oper wird das Festival „Winter in Schwetzingen“ des Theaters Heidelberg eröffnet, das bis ins neue Jahr hinein Klassik in die Stadt bringt.
Frau Oberlinger, warum braucht die Welt noch Barockopern?
Dorothee Oberlinger: In diesen Opern werden Stoffe behandelt, die allgemeingültig sind. Reinhard Keisers Werk „Nebukadnezar“ liegt ein biblischer Stoff zugrunde, der mit einer Hofgeschichte verbunden ist. Darin geht es um „Sex and Crime“, und das Erhellende daran ist eigentlich, wie modern die Geschichte ist. Wir haben sie deshalb ins 21. Jahrhundert verlegt; statt mit Nebucadnezar haben wir es mit einem CEO eines Konzerns zu tun.
Zur Opernpremiere
- Die Oper „Nebucadnezar“ von Barockkomponist Reinhard Keiser wird im Rahmen des Festivals „Winter in Schwetzingen“ am Samstag, 1. Dezember, 19.30 Uhr, im Rokokotheater des Schlosses uraufgeführt.
- Leiter des Festivals ist Thomas Böckstiegel von der Operndirektion am Heidelberger Stadttheater. Die musikalische Leitung hat Dorothee Oberlinger. Regisseur ist Felix Schrödinger.
- Mitwirkende sind Ensemblemitglieder des Heidelberger Theaters sowie Sängerinnen und Sänger aus dem Bereich der Alten Musik sowie das Philharmonische Orchester Heidelberg.
- Kartenvorverkauf unter theaterheidelberg.eventim-inhouse.de und im Kundenforum der Schwetzinger Zeitung am Schlossplatz. urs
Die Musik ist älter als 300 Jahre. Wie passt das zusammen?
Oberlinger: Auch die Musik ist im Grunde genommen modern, weil sie sich sehr im Moment ereignet. Barockmusik hat einen hohen improvisatorischen Anteil. Die Stimme für das Basso Continuo ist harmonisch nicht ausgeschrieben, sondern nur beziffert. Deshalb müssen die Harmonien von den Instrumentalisten, ob Laute oder Cembalo, selbst improvisiert werden. Hierdurch erklingt die Oper an jedem Abend ein wenig anders. Das macht die Frische und Lebendigkeit dieser Musik aus.
Was bedeutet das für Sie als Dirigentin?
Oberlinger: Ich muss mich anhand der Partitur fragen: Wo drückt die Musik bestimmte Affekte aus, wie setzen wir bestimmte emotionale Bewegungen um, welche Verzierungen nutzen wir, welche Artikulation? Oder: Wie kolorieren wir eine Passage instrumental? So ist in der Partitur beispielsweise nicht definiert, welches Instrument den Bass spielen soll, ob ein Fagott gewünscht ist oder ob sich eher ein Cello dafür eignet.
Werden wir eine instrumental geprägte, also eher eine halbszenische Aufführung sehen?
Oberlinger: Nein. Die Sängerinnen und Sänger sind auch als Darsteller stark gefordert. Regisseur Felix Schrödinger hat ein Kammerspiel entwickelt, das einen Tagesablauf beschreibt und mit sparsamen Mitteln sehr intensive Wirkungen erzeugt.
Welchen Rang nimmt Reinhard Keiser im Feld der damals bekannten Komponisten von Barockopern ein?
Oberlinger: Ich kannte Keiser bislang nicht gut, er hat ja auch wenige Instrumentalstücke geschrieben. Keisers Hauptgebiet war die Oper. Der damalige Hamburger Musikkritiker Johann Mattheson hat ihn als bedeutenden Opernkomponisten gewürdigt. Und einige berühmte Arien, die wir von Georg Friedrich Händel kennen, stammen in Wirklichkeit von Keiser. Aber das war zu dieser Zeit normal: Die Barockmusik war eine Art Werkstatt, in der man sich gegenseitig bedient und ausgeholfen hat. Ausgeliehenes wurde „mit Ehre und Zins“ erstattet.
Was zeichnet Keisers Musik aus Ihrer Sicht aus?
Oberlinger: Er war ein sehr rhetorischer Komponist. Er hat sich nahe an der Sprache orientiert. Seine Musik ist sehr dramatisch und bildhaft. Blitz und Donner werden unmittelbar in der Musik dargestellt. Keiser hat für die Sänger sehr kantabel, aber auch virtuos, also reich an Ornamenten und Koloraturen geschrieben. In „Nebucadnezar“ geht es um drei Arten von Liebe: die empfindsame, die galante und die erotische Liebe. Alle drei Liebesarten werden auch stilistisch unterschiedlich behandelt.
Spielen in der Inszenierung auch aktuelle Bezüge eine Rolle, etwa der Nahostkonflikt, der in diesen Tagen ja noch an Aktualität gewonnen hat?
Oberlinger: Nein, denn der Opernstoff ist allgemein gehalten und nicht auf eine spezifische historische oder politische Situation zugeschnitten. Es geht um jemanden, der nach der Macht strebt und darum, wie seine Macht am Ende korrumpiert wird. Es geht um Hybris und um Hochmut vor dem Fall. An Nebucadnezar lässt sich zeigen, wozu Macht in der Lage ist. Sie kann einen Menschen in ein völlig monströses Wesen verwandeln. Es geht auch um MeToo – also sexuellen Machtmissbrauch. In diesem Fall ist aber ein Mann das Opfer.
Wie kriegt man die barocke Musik mit einem modernen Setting zusammen?
Oberlinger: Es geht sehr gut zusammen, denn der Stoff ist sehr heutig und mich fasziniert auch eine moderne Umsetzung mit der Sichtweise eines Regisseurs, der eine eigene Geschichte und Draufsicht entspinnt, anders als im historisch inszenierten Theater. Da gibt es permanent Spannungen und Konflikte. Auch für mich ist das spannend, denn diese Oper ist meine erste Produktion im Rokokotheater des Schwetzinger Schlosses. Und meine erste mit einer modernen Bühnenästhetik. Bisher habe ich mich vor allem mit der historischen Aufführungspraxis von alter Musik befasst habe, mit Mimik und Gestik historischer Schauspielkunst etwa des 18. Jahrhunderts.
Eignet sich das Schwetzinger Rokokotheater für die Aufführung einer Barockoper?
Oberlinger: Ja, unbedingt. Es ist ein musikhistorisch bedeutender Ort. Ich bin auch Intendantin der Musikfestspiele Potsdam und leite jährlich eine Oper am dortigen Schlosstheater. Was mir in Schwetzingen auch gut gefällt, ist die hohe Konzentration, die das Rokokotheater ausstrahlt. Das Publikum sitzt ganz nah an der Bühne. Alles ist sehr kompakt, der Klang ist sehr direkt, man kann jedes Pianissimo hören. Auf diese Weise hört man wirklich alles – das Schlechte wie das Gute. Das ist eine totale Herausforderung.
Welchen Raum wird die Dirigententätigkeit in Ihrer künstlerischen Zukunft einnehmen?
Oberlinger: Das Dirigieren ist eine regelmäßige Konstante geworden. Aber es bereichert mich auch als Flötistin enorm. Vom sängerischen Ausdruck und der Form kann man als Instrumentalistin viel lernen, auch von der Inspiration durch das Wort. Die Stücke, die wir spielen, sind häufig Arien ohne Worte. Ich konzipiere auch meine Konzerte nach dramaturgischen Gesichtspunkten, setze also nicht einfach eine Nummer an die andere, sondern ich möchte mit den einzelnen Stücken eines Konzerts eine Geschichte erzählen. Im musikalischen Fluss eine Klimax entstehen zu lassen – das lerne ich von der Oper.
Reinhard Keisers Geburtstag jährt sich 2024 zum 350. Mal. Werden Sie weitere Opern von ihm dirigieren?
Oberlinger: Ganz bestimmt. In seinem großen Opernœuvre gibt es noch viel zu entdecken. Als Telemann-Preisträgerin interessieren mich auch die zahlreichen Bezüge, die es zwischen beiden Barockkomponisten gibt. Aber jetzt geht es erst einmal um „Nebucadnezar“, der als geschlossene Oper so noch nie inszeniert wurde.
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