Förderfonds

Caritas und Diakonie Rhein-Neckar-Kreis: Armut in der Mittelschicht angekommen

Immer mehr Familien brauchen Spenden, um Grundbedürfnisse der Kinder zu decken, denn diese sind die Leidtragenden – im Jahresbericht von Caritas und Diakonie schrillen die Alarmglocken.

Von 
Nicolai Lehnort
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Bedürftigen Familien fehlt es vor allem an Geld für Kleidung für die Kinder. © dpa

Eine vierköpfige Familie mit berufstätigen Eltern und zwei Kindern kauft sich vor einigen Jahren eine Eigentumswohnung. Die Familie ist finanziell nicht auf Rosen gebettet, kommt mit dem zur Verfügung stehenden Geld aber zurecht. Die Kinder können „Kind sein“, ihnen soll es möglichst an nichts fehlen. Durch die Pandemie verliert ein Elternteil seine Anstellung, der Ukraine-Krieg treibt die Kosten für Strom und Gas in die Höhe, die Inflation für Lebensmittel und weitere Haushaltsausgaben. Leidtragende dieser Entwicklung sind nicht nur die finanziell unter Druck stehenden Eltern, sondern am Ende dieser Schleife vor allem deren Kinder. „Kinder sind in armen Familien letztlich immer die Verlierer“, heißt es im kürzlich erschienenen Jahresbericht 2022 des Kinderförderfonds südliche Kurpfalz von Caritasverband und Diakonischem Werk für den Rhein-Neckar-Kreis.

Familien, die wie in diesem fiktiven Beispiel aufgrund der Faktoren der vergangenen Jahre in derart prekäre Situationen geraten, „müssen all ihr Geld für den Unterhalt der Wohnung und die Grundbedürfnisse der Kinder aufwenden“, erzählt Manfred Köhne vom Caritasverband Wiesloch bei der Vorstellung des Berichts im Schwetzinger Rathaus vor den Schirmherren des Fonds, zu denen unter anderem Schwetzingens Oberbürgermeister Dr. René Pöltl und Hockenheims Stadtspitze Marcus Zeitler gehören.

Um den schulpflichtigen Kindern eine Klassenfahrt zu finanzieren, reiche das Geld heute nicht mehr aus. Der für die Mittelschicht bittere Gang zu Caritas oder Diakonie, zum Kinderförderfonds wird unausweichlich. „Diese Klienten hatten wir früher nicht“, stellt Köhne fest. Die Armut kommt in der Mittelschicht an, heißt es im Jahresbericht. Das ist nur eine von vielen erschreckenden Erkenntnissen.

Es fehlt Kindern in Armut vor allem an Kleidung

Neben dieser Negativentwicklung bei den Erwerbstätigen mangelt es am anderen Ende den Bedürftigen, den Empfängern von Arbeitslosengeld, am Einfachsten. Von 303 Maßnahmen, die der Fonds im letzten Jahr finanzieren konnte, entfielen mit 124 bald die Hälfte auf Kleidung. Größer sei dieser Block noch nie gewesen, merkt Köhne an. Darauf folgt die Ausstattung fürs Kinderzimmer (45) und Schulbedarf (34). Der Caritasvertreter bringt die Not auf den Punkt: „Das Bürgergeld ist auf Kante genäht, da bleibt nichts übrig.“

Nadine Bikowski (3. v. r.) und Manfred Köhne stellen den Schirmherren des Kinderförderfonds – Hockenheims OB Marcus Zeitler (v.l.), Hans Reinwald (Bürgermeister Leimen), Dirk Elkemann (OB Wiesloch) und Dr. René Pöltl (OB Schwetzingen) sowie Dekan Uwe Lüttinger (r.) und Pfarrerin Katharina Treptow-Garben von den Kirchen – die Ergebnisse des Jahresberichts vor. © Lehnort

„Ursprünglich war der Fonds gedacht, um den Kindern den Gang zur Musikschule oder in den Reitunterricht zu ermöglichen“, berichtet Nadine Bikowski, Bezirksleiterin des Diakonischen Werks südliche Kurpfalz. Inzwischen fülle er jedoch Lücken, die die Sozialleistungen nicht stopfen können. Gefragt sind heute in erster Linie Grundbedürfnisse. Nur noch 27 Förderungen, und damit nicht einmal jede zehnte Maßnahme, entfallen laut Jahresbericht auf den Posten „Freizeitgestaltung/Jugendgruppe“. Bikowski warnt: „Der Trend geht immer weiter in diese Richtung.“

Begünstigt wird diese Entwicklung von verschiedenen Faktoren. So wächst die Anzahl der unter Armut lebenden Menschen in Deutschland seit Jahren an: Im zweiten Pandemiejahr 2021 erreichte sie laut Armutsbericht des paritätischen Wohlfahrtsverbandes mit 16,9 Prozent einen traurigen Höhepunkt. In Baden-Württemberg waren damals 110 000 Menschen von Armut betroffen – Tendenz steigend.

Offiziell als arm gilt laut Statistik eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei einem monatlich verfügbaren Nettoeinkommen von rund 2600 Euro. Leidtragende des knappen Geldbeutels sind letzten Endes die Kinder. Nicht umsonst steht der Jahresbericht des Kinderförderfonds unter der These „Kinder – Armutsrisiko Nummer eins?“. Erklärt wird das in dem Bericht durch kinderbedingt erhöhte Haushaltsausgaben, denen eine mögliche Reduzierung der Erwerbstätigkeit der Eltern gegenübersteht.

Hinzu kommt, dass etwa Inflationsausgleichszahlungen dem Report zufolge „vor allem in den unteren Lohngruppen und bestimmten Bereichen wie Zeitarbeit“ oft nicht ausbezahlt wurden. Reinigungs- und Lagerkräfte oder Paketzusteller würden sich so immer öfter bei ihnen einfinden, schildert Caritasvertreter Köhne.

Bürokratie als große Hürde bei Armut

Als schwerwiegendes Problem machen die beiden Sozialarbeiter die deutsche Bürokratie aus. Teilweise säßen ihr gut ausgebildete Menschen gegenüber, die gerne arbeiten wollen würden, erzählt Bikowski. „Aber ich weiß nicht, wie viele Instanzen die zuerst beim Arbeitsamt durchlaufen müssen“, kritisiert sie den bürokratischen Prozess – und warnt vor dem Hintergrund der Digitalisierung und zunehmender Probleme der Bedürftigen mit der deutschen Sprache vor weiteren Hürden: „Zukünftig werden die Leute zum Teil nicht mehr verstehen, wie das überhaupt funktioniert.“

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Weiter verschärft werden ihre Sorgen durch die aktuellen Debatten um den eventuellen Aufschub der Kindergrundsicherung und die wankende Erhöhung des Bürgergeldes, ausgelöst durch die Haushaltkrise. „Es ist technisch nicht mehr möglich, für Januar 2024 andere als die bisher veröffentlichten Werte umzusetzen“, sagte ein Sprecher der Bundesagentur für Arbeit kürzlich dazu. Die Ämter hätten die Prozesse bereits digitalisiert und die Auszahlung begonnen, berichtet Manfred Köhne und schlägt Alarm: „Uns droht im nächsten Jahr ein riesiges Chaos.“

Weitet man den Blick noch, machen die aktuellen Krisen auch vor den Anlaufstellen der Bedürftigen nicht halt. So heißt es in dem Report, dass die Tafeln „mit einem Rückgang der Lebensmittelspenden und einer vermehrten Nachfrage zu kämpfen“ hätten (wir berichteten mehrfach).

Ausschüttung auf Höchststand

Diese Armutsspirale spült die Bedürftigen in Mengen in die Beratung der Wohlfahrtsverbände – und sorgt dort für Rekordausgaben: Im laufenden Jahr schüttet der Kinderförderfonds erstmals seit Bestehen 2010 die Höchstsumme von 40 000 Euro an Spendengeldern aus. Stand November dieses Jahres hat die Maßnahmenanzahl mit 316 einen neuen Höchstwert erreicht – vor Jahresende. Schon jetzt gebe es Antragsteller, die auf die Auszahlung ihrer Hilfen im Januar warten – finanziert aus Rücklagen.

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Die sich weiter zuspitzende Situation fordert nicht nur Bedürftigen, sondern auch Caritas und Diakonie alles ab. Die Hoffnungen ruhen auf der oftmals erhöhten Spendenbereitschaft in der Weihnachtszeit, denn während in 2022 eine Rekordspendensumme von über 50 000 Euro zusammenkam, steht aktuell nur rund die Hälfte zu Buche. Nadine Bikowski hat sich mit der Bitte um Spenden schon direkt an umliegende Unternehmen gewandt, „um auf die Notlage hinzuweisen“, wie sie berichtet. Gleichzeitig hebt sie die Bedeutung regionaler Spendenaktionen hervor, wie etwa den Kindertraumbaum auf dem Schwetzinger Schlossplatz, der in 2022 über 22 000 Euro an Hilfsgeldern einbrachte.

Um der Lage Herr zu werden, wünscht sich Caritasvertreter Manfred Köhne, dass alle gemeinsam an einem Strang ziehen: „Alle gesellschaftlichen Institutionen müssen schauen, dass dieser Trend gestoppt wird.“

Spenden für den Kinderförderfonds können geleistet werden an: Diakonisches Werk, Kinderförderfonds, Sparkasse Heidelberg, IBAN: DE86 6725 0020 0009 1409 05

Volontariat Nicolai Lehnort ist seit Juli 2023 Volontär.

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