Präsenztermine waren im Landtagswahlkampf ja kaum möglich. Dabei hatten sich zahlreiche bekannte Bundes- und Landespolitiker zu Besuchen in der Region angesagt. Nun hat es die Pandemielage doch noch zugelassen, dass sich am Donnerstag der ehemalige Grünen-Bundesvorsitzende und derzeitige Leiter des Verkehrsausschusses im Bundestag, Cem Özdemir, in Schwetzingen und Hockenheim vor Ort umsehen konnte. Zusammen mit dem Wahlkreiskandidaten Dr. Andre Baumann schaute er zu einem Redaktionsgespräch im Kundenforum unserer Zeitung vorbei, diskutierte mit den Inhabern der Mayerhof-Apotheke und traf Mitglieder der Hockenheimer Bürgerinitiative zum Erhalt des Stadtwaldes C4.
Warum hinkt Deutschland in der Corona-Krise in so vielen Punkten hinterher?
Zur Person: Cem Özdemir (55)
- Cem Özdemir ist am 21. Dezember 1965 in Bad Urach geboren. Sein Vater stammt aus der Kleinstadt Pazar in der türkischen Provinz Tokat und ist Angehöriger der tscherkessischen Minderheit. Er wanderte 1961 als Gastarbeiter nach Deutschland aus und arbeitete in einer Textilfabrik, später bei einer Feuerlöscherfabrik. Die Mutter, die 1964 als junge Lehrerin nach Deutschland gekommen war, hatte eine Änderungsschneiderei.
- Nach der Realschule machte Cem Özdemir eine Ausbildung zum Erzieher, holte die Fachhochschulreife nach und studierte Sozialpädagogik.
- 1994 gehörte er zusammen mit der Sozialdemokratin Leyla Onur zu den ersten Bundestagsabgeordneten mit türkischen Eltern.
- Er war von November 2008 bis Januar 2018 Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen und gemeinsam mit Katrin Göring-Eckardt grüner Spitzenkandidat zur Bundestagswahl 2017. 2019 kandidierte Özdemir mit Kirsten Kappert-Gonther erfolglos für das Amt des Vorsitzenden der Bundestagsfraktion.
- Nach dem Scheitern der Jamaika-Koalition zog sich Özdemir aus der ersten Reihe der Grünen zurück. Seit 2018 bis heute ist Özdemir Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Cem Özdemir: Ich habe großen Respekt dafür, wie wir in der Frühphase die Krise gemeistert haben. Es war richtig, dass die Grünen in der Opposition im Bund da nicht als Kritikaster aufgetreten sind – vor allem wenn man das mit den USA vergleicht, wo die Krise zur politischen Polarisierung instrumentalisiert wurde. Es geht schließlich darum, Leben zu retten. Aber für die jetzigen Probleme gibt es keine Entschuldigungen mehr. Die Bürger können nicht verstehen, dass wir bei der Beschaffung des Impfstoffes und bei den Tests nicht weiter vorne dabei sind. Da ist viel Chaos am Start. Ich ärgere mich schon, wenn ich montags im Radio höre, dass die Zahl der Neuinfektionen nicht vollständig ist, weil nicht alle Gesundheitsämter am Wochenende melden. Nach einem Jahr Pandemie und Einschränkungen gibt es dafür wenig Verständnis. Die digitalen Nachfolger des Faxgerätes sind doch schon erfunden und wurden nicht verboten. Das kann doch nicht wahr sein, dass wir in Deutschland solche Dinge nicht gut hinkriegen. Und ich bin selbst Vater von zwei Schulkindern. Ich kann helfen, bin da privilegiert – aber was ist mit Kindern, deren Eltern das nicht können, die kein Endgerät für Homeschooling haben und nicht mal ein Kinderzimmer? Und was ist mit denen, deren Eltern zu Hause nicht gut Deutsch sprechen? Als Kind türkischer Gastarbeitereltern weiß ich, wovon ich rede.
Andre Baumann: In Baden-Württemberg haben wir einen Weg gefunden, digitale Endgeräte zur Verfügung stellen zu können. Aber bis heute ist es ja so, dass nicht mal jede Grundschullehrerin eine berufliche E-Mail-Adresse hat, sie muss ihre Privatadresse preisgeben.
An was liegt es denn?
Özdemir: Die Kanzlerin genießt auf der einen Seite ein hohes globales Ansehen und hat international eine Menge richtig gemacht. Aber obwohl sie ja Physikerin ist, rächt es sich, dass bei der Digitalisierung ganz viel liegengeblieben ist. Unter ihrer Führung haben wir die digitale Modernisierung unseres Landes verschlafen. Ihr für digitale Infrastruktur zuständiger Minister Scheuer hat ja nicht nur das Mautdesaster zu verantworten, sondern er und seine CSU-Vorgänger haben zu einer Zeit, als das Glasfaserkabel schon erfunden war, auf Kupferleitungen gesetzt. Dobrindt und Scheuer verbindet wohl niemand mit der Digitalisierung Deutschlands.
Heißt das nicht auch, dass der Föderalismus an seine Grenzen stößt?
Özdemir: Der Föderalismus macht schon unsere Stärke aus. Über die Länderregierungen können viele gute Ideen in die Gesetzgebungen eingebracht werden. Winfried Kretschmann hatte mal eine Regierungserklärung mit dem Titel „Hightech, Highspeed, Heimat“ abgegeben, weil er früher wie andere die Bedeutung der Digitalisierung erkannt hat. Den Titel hatte ich versucht, bei den Jamaika-Koalitionsverhandlungen einzubringen, die am Ende gescheitert sind.
Baumann: Beim Infektionsschutzgesetz kann man durchaus darüber nachdenken, ob das beim Bund besser aufgehoben wäre, oft waren wir als Land mit den Vorschlägen dem Bund voraus. Aber insgesamt befördert der Föderalismus den Wettbewerb der besten Ideen und ist besser geeignet als ein Zentralismus.
Sie wollen bis 2030 den Verbrennungsmotor abschaffen. Das im Autoland Baden-Württemberg?
Özdemir: Das gilt für Neuzulassungen ab 2030. Wenn sie einen Verbrenner haben, dürfen sie den natürlich noch weiterfahren. Unsere Forderung hat vor vier, fünf Jahren Wellen geschlagen, aber inzwischen spricht ja sogar der bayerische Ministerpräsident Söder von 2035. Und die Hersteller stellen mittlerweile Gott sei Dank zum großen Teil auf emissionsfreie Autos um. In Deutschland bauen wir Autos weitgehend für den Export. Und fast die Hälfte unserer Exporte gehen in Länder, die bereits heute Pläne für den Ausstieg aus dem Verbrenner haben. Da bringt es nichts, so zu tun, als könne alles beim alten bleiben. Wer in der Automobilbranche keine Veränderung will, ist gegen Autos aus Deutschland und für Autos aus China und den USA, denn die liefern E-Mobilität. Wir brauchen jetzt den Wandel und müssen den Schalter umlegen, dann haben Hersteller und Zulieferer Planungssicherheit und können sich darauf ausrichten. Die Klimaziele von Paris sind ja auch gar nicht anders zu bewältigen. Zusätzlich braucht es mehr Güter auf der Schiene, den Ausbau des ÖPNV und intelligente Mobilitätslösungen, zum Beispiel über Apps, um Fahrzeuge effizienter zu nutzen.
Woher nehmen wir die Energie?
Özdemir: Die Klimakrise ist soweit fortgeschritten, dass wir alle Technologien in der Mobilität brauchen, aber eben nicht alles überall. Egal ob Wasserstoff, synthetische Kraftstoffe oder Batterie, alles braucht Strom und der muss von Erneuerbaren kommen. Um möglichst wenig Strom zu verschwenden, müssen wir ihn überall dort direkt einsetzen, wo es möglich ist. Das ist beim Pkw der Fall. Beim Lkw, Flugzeug oder bei Schiffen werden wir um Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe nicht herumkommen.
Baumann: In Baden-Württemberg muss im nächsten Koalitionsvertrag stehen, dass im Staatsforst Windanlagen entstehen und die Kommunen an den Erlösen beteiligt werden.
Hätten Sie, als Sie vor 30 Jahren zu den Grünen gegangen sind, gedacht, dass es hier einen grünen Ministerpräsidenten geben wird und dass der über 70 ist? Hätten Sie nicht Lust, Nachfolger zu werden?
Özdemir: Winfrid Kretschmann ist am Ende der nächsten Amtszeit immer noch jünger als der neue US-Präsident Joe Biden bei seinem Amtsantritt. Wir brauchen ihn mit seinem Tatendrang und seinem unverwechselbaren politischen Stil hier im Land. Ich bewerbe mich bei der Bundestagswahl und will eine kraftvolle Stimme für Baden-Württemberg in Berlin sein. Und in meinem Stuttgarter Wahlkreis will ich im Herbst diesmal das Direktmandat holen.
Was würden Sie einer Flüchtlingsfamilie raten in Sachen Sprache innerhalb der Familie?
Özdemir: Sie sollten die Sprache sprechen, die sie am besten können. Es bringt nichts, den Kindern schlechtes Deutsch beizubringen, dafür sollten wir in Kitas und Schulen sorgen. Kinder haben kein Problem, zweisprachig aufzuwachsen. Wichtig wäre, wieder mehr Bücher vorzulesen statt nur fernzusehen – das gilt übrigens nicht nur für Geflüchtete.
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