Schwetzingen. Es war der vierte und letzte Vortrag des Richters und Hochschuldozenten Dr. Alessandro Bellardita zum Grundgesetz in den Räumen der Volkshochschule (VHS). Und um es gleich vorweg zu nehmen, es regte sich Unmut. Nicht wenige der 20 Besucher bedauerten, dass das der Abschluss der Grundgesetz-Reihe sein soll. Der Mann, so sagte es eine Besucherin, mache bei der Bewertung der Demokratie ganz grundsätzlich und auch für die aktuellen politischen Gemengelage einen Unterschied.
Bellardita selbst zitiert hierzu passend aus dem Buch „Das hier ist Wasser“ des viel zu früh verstorbenen Autors David Foster Wallace: Dabei begegnen sich drei Fische, zwei jüngere und ein älterer. Der Ältere fragt die Jüngeren, wie denn das Wasser sei. Die jüngeren Fische schwammen weiter. Doch nach einigen Metern hielten sie inne und fragten, was verdammt noch einmal ist Wasser? Damit lenkte Wallace den Blick auf das Dilemma, dass Menschen die Demokratie als zu selbstverständlich nehmen und damit zulassen, dass Fundamente erodieren.
Rücksicht auf Einzelinteressen
Demokratie ist anspruchsvoll, sie nimmt im Rahmen eines andauernden, nicht endenden Aushandlungsprozess Rücksicht auf die Interessen des Einzelnen. Sie kenne nicht die eine Identität, die eine Wahrheit und schon gar nicht das eine Volk. Das Gegenteil sei richtig. Demokratie, so Bellardita, „kann als einzige Regierungsform Pluralismus“. Und wer diesen Pluralismus in Frage stelle, stelle am Ende die Demokratie in Frage.
Der letzte Vortrag stand unter dem Titel „Demokratie und Grundrechte – ein Spannungsverhältnis“. Und gleich zu Anfang brachte er den Wiener Großdenker Karl Raimund Popper (1902 bis 1994) in Stellung. Popper, der in jungen Jahren ein Kommunist war, geriet 1919 in Straßenschlachten, welchen am Ende 20 junge Menschen zum Opfer fielen. Darunter auch ein enger Freund. Zu erwarten gewesen wäre, dass sich Popper weiter radikalisiert. Aber es passierte das Gegenteil.
Die "Logik der Forschung"
Unter der Frage, ist es gerechtfertigt, dass Menschen im Namen einer Ideologie sterben, erschuf er ein Denkgebäude, das Bellardita als schlicht großartig beschreibt. Die Antwort ist für Popper immer Nein. In seinem Buch „Logik der Forschung“ entwickelte er dann den Gedanken, dass das zentrale Bemühen der Wissenschaft die Falsifikation sein müsse. Heißt, es muss mit aller Kraft versucht werden, die Theorie zu widerlegen. Wenn dies nicht gelinge, sei sie ein Dogma und gefährlich. Denn sie vermittle den Eindruck von Endgültigkeit und Gesetzmäßigkeiten, die es in Demokratien einfach nicht geben könne. Ein Beispiel sei Karl Marx und seine These, dass der Klassenkampf unabwendbar sei. Ein Dogma, das in den Autoritarismus führte.
Unter Druck können Demokratien auch im Zuge einer Professionalisierung der Politikerkaste geraten. Nämlich dann, wenn die Logik des erfolgversprechenden politischen Handelns zunehmend umfrageorientiert verstanden wird und die innere Überzeugung verdeckt. In der Volkswirtschaftslehre gibt es das nach Harold Hotelling benannte Hotelling-Gesetz. Angenommen zwei Eisverkäufer teilen sich einen 1000 Meter langen Strand. Aus der Perspektive des Duos wäre eine Positionierung nach 250 Meter und 750 Meter sinnvoll. Doch aus der Perspektive des Einzelnen und dem Ziel der Gewinnmaximierung erscheint eine Positionierung möglichst in der Mitte angezeigt. Und so werden die Beiden in die Mitte rücken und verschlechtern damit die Versorgung an den Rändern. Genau das, so Bellardita, „ist im politischen Betrieb passiert“. Gerhard Schröder rückte nach rechts und schuf Platz für die Linke. Und Angela Merkel rückte nach links und ließ Raum für die Gründung der AfD. Wichtig, es haben sich alle rational verhalten, in der Mitte gebe es das Meiste zu gewinnen. Aber der Blick aufs Ganze zeigt, einen gefährlichen Nebeneffekt des Hotelling-Gesetzes.
Die Irritationen steigen
Auch weil es mit dazu führt, dass der Austausch abnimmt und die damit abnehmenden zwischenmenschlichen Irritationen vermeintliche Wahrheiten stabilisieren. Wahrheiten, wie die, wer dazu und wer nicht dazu gehört. Für Demokratien schwierig, weil sie eben nicht zulässt, dass eine Mehrheit entscheidet, was zu sein hat und was nicht. Demokratie, so Bellardita, „ist eben nicht die Herrschaft der Mehrheit“.
Die zentrale demokratische Essenz ist der Schutz der Minderheit, die sich in den Grundrechten zeigt und deren Schutz die zentrale Aufgabe des Staates sei. Und als zweites, die ständige Anpassung an das sich ständig verändernde Sein. Daraus leitet Bellardita ab, dass der Krisenmodus der eigentliche demokratische Zustand ist. Versuch, Irrtum und Korrektur beschreiben die demokratische Vorgehensweise. Wer dagegen glaube, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, was autoritäre Herrscher immer tun, produziere nach Popper, „stets die Hölle“. Damit ist in den Augen Bellarditas auch der Zweifel für das Funktionieren der Demokratie fundamental.
Komplexer wird unter den Worten dieses Juristen auch das Thema Freiheit. Ausgehend von Friedrich Nietzsches Buch „Fröhliche Wissenschaft“ verwies er auf die Fallstricke der Freiheit. Das Meer vermittle Freiheit. Aber Matrosen, die fernab von allem auf hoher See seien, verspürten eine große Sehnsucht nach Land. Und diesen Effekt gebe es auch rund um die Freiheit. Denn sie könne eine Last sein. Jean Paul Sartre sagte: „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.“ Gemeint ist damit, er ist dazu verurteilt die Verantwortung zu tragen.
Die Demokratie, daran lässt Bellardita nie Zweifel aufkommen, sei eine herausforderungsvolle Regierungsform. Sie habe Schwächen und manchmal nerve sie ungemein. Aber sie sei auch die einzige Regierungsform, die dem Individuum Raum lässt und damit zutiefst menschlich ist. Und Demokratien seien aufgrund ihrer konstitutiven Diversität und Toleranz für unterschiedliche Meinungen und Interessen für eine gelingende Zukunft gut gerüstet. Frei nach dem Hirnforscher Wolf Singer sind nur komplexe Systeme mit nicht linearer Dynamik fähig, sich selbst zu organisieren und zu stabilisieren. Dazu braucht es zwingend Pluralität und die enge horizontale Vernetzung der Akteure.
Es ist eben niemand allwissend
Stark hierarchische, totalitäre Systeme seien dagegen extrem anfällig. Sie beruhen auf der Illusion, es gäbe allwissende Dirigenten. Vertikal strukturierte Systeme sind nicht zur Selbstorganisation fähig. Sie verzichten auf die Synergien verteilter Kompetenzen und entbehren deshalb jedweder Resilienz gegenüber Unvorhergesehenem. Nicht von ungefähr hat die Evolution extrem komplexe Systeme, wie unser Gehirn, hervorgebracht, die auf Selbstorganisation vertrauen und keinen Dirigenten bedürfen.
Mit einem Dirigenten gäbe es kein funktionierendes Gehirn, genau wie es mit Dirigenten auch keine nachhaltig funktionierende Gesellschaft gibt. Und genau das machte Bellardita mit seinen vier Vorträgen auf so vielen Ebenen so deutlich, dass auf die Frage, wie denn das Wasser sei, hier in der VHS wohl alle wüssten worum es geht und wie grundlegend wichtig das Wasser ist.
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