Er war der letzte Chefdirigent des hinwegfusionierten SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, der letzte in einer ruhmreichen Reihe von Orchesterleitern und -erziehern, die im Wesentlichen aus zwei Österreichern (Hans Rosbaud, Michael Gielen) und drei Franzosen (Ernest Bour, Sylvain Cambreling und eben ihm: François-Xavier Roth) bestand. Ihnen allen war und ist neben einem riesigen Repertoire gemeinsam, dass sie Musik für „unteilbar“ halten, also das Aufführen neuer Musik ebenso selbstverständlich zu den Aufgaben von Orchestern und Dirigenten zählen wie die Pflege des Erbes, zumal wenn sie im Dienste des Rundfunks stehen und dessen Selbstverpflichtung zur Vermittlung von Kultur und Bildung ernst nehmen.
Wiewohl man der Liebe auf den ersten Blick zwischen Orchestermusikern und Dirigenten nicht trauen sollte, so war es doch überraschend, mit welch leuchtenden Augen die Musiker aus Freiburg und Baden-Baden nach den ersten Auftritten mit Roth 2010/11 dauerhaft umherliefen. Überzeugt davon, den Chef fürs Leben gefunden zu haben – einen Dirigenten, der sie beim Erarbeiten seiner spannenden Programme zwar respektvoll behandelte, aber auch unmissverständlich wissen ließ, wo es künstlerisch lang geht. Ein Vorgang im Übrigen, der sich 2014/15 in Köln wiederholte, als er – auch aus Protest gegen den südwestdeutschen Orchestertod – dem Ruf als Städtischer Generalmusikdirektor folgte und buchstäblich im Handumdrehen Musiker und Publikum für sich einnahm.
Wer dabei war, erinnert sich an viele Worte und Taten, die seinen Ruhm als kommunikativer, souveräner, charismatischer Chef d’Orchestre begründeten: seine pointierten, aufmunternden, in progressiv sich verbesserndem Deutsch gehaltenen Ansprachen im Freiburger Konzerthaus. Oder an eine Aufführung an gleichem Ort von Pierre Boulez’ „Explosante-fixec“ für drei Flöten, Elektronik und Ensemble, nach der er – gelernter Flotist – seine Querflöte hervorzauberte und mit den Kollegen ein frühklassisches Sätzchen von Friedrich Kuhlau als Zugabe spielte. Und dann erst seine Erarbeitungen und Aufführungen von Bernd Alois Zimmermanns Jahrhundertoper „Die Soldaten“ im Kölner Staatenhaus, in der er Sänger und sein Gürzenich-Orchester mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Klippen der immer noch kaum zu bewältigenden Partitur führte.
François-Xavier Roths musikalische Vision und sein Ensemble Les Siècles
Als Opern- und Konzertchef, der zudem Principal Guest Conductor des London Symphony Orchestra und Leiter des Atelier Lyrique de Tourcoing ist und inzwischen Gast in den Konzertsälen der Welt, sollte François-Xavier Roth – so stellt man sich vor – ausgelastet sein. Doch es gibt da noch ein Herzensprojekt, das ihn unentwegt beschäftigt, soeben sein 20-jähriges Bestehen gefeiert hat und mit Lob überhäuft wird: Es heißt Les Siècles (Die Jahrhunderte) und ist ein von Roth gegründetes Ensemble und „Projet utopique“, das Musik des 17. bis 21. Jahrhunderts im Originalklang präsentiert: Es spielt also nicht nur Lully, Bach und Mozart auf alten Instrumenten, historisch informiert und in alter Stimmung, sondern rückte in der Musikgeschichte immer weiter vor bis – zunächst – zu Debussy, Ravel und den russischen Balletten Strawinskys (Feuervogel, Petruschka und Le sacre du printemps), deren Aufnahmen wegen ihrer authentischen Farben und ihrer Frische mit europäischen Schallplattenpreisen großzügig dekoriert wurden.
Fester Sendeplatz im Fernsehen
Les Siècles vermitteln ihre Musikpassion auch pädagogisch, sind Patrone von Jugendorchestern, gehen in Krankenhäuser, Altenheime und sogar Gefängnisse und haben einen Fernsehplatz auf France 2. Ihren Leiter werden sie weiterhin mit deutschen Orchestern teilen müssen: Zur Spielzeit 2025/26 wird Roth Chefdirigent des fusionierten SWR Symphonieorchesters mit Sitz in Stuttgart.
Noch mehr allerdings nähern sich Les Siècles unserer Gegenwart mit ihrem Mozart-Ligeti-Projekt, dessen Zustandekommen mit den weltweiten Feiern des 100. Geburtstags von Gyorgy Ligeti verknüpft ist. Dieses musikalische Unternehmen, das nur im konzertanten Doppelpack seinen Sinn gänzlich erschließt, will weniger verborgene Gemeinsamkeiten dieser zwei Giganten der Musikgeschichte (Roth) aufdecken, als Jahrhunderte voneinander getrennte Musikstile in ihrer Disparatheit – zwei Sätze von Instrumenten, zwei Stimmtöne, zwei unterschiedliche Klangvorstellungen – aufeinander wirken lassen. „Die Musiker und ihr Dirigent – sie folgen mir total, wir sind eins!“ Das demonstriert, wie pluralistisch ihr musikalisches Weltbild und ihre interpretatorischen Zuständigkeiten sind und setzen dabei leise Zweifel an der Notwendigkeit von stets getrennt agierenden Spezialensembles für alte und neue Musik in die Welt: Sie sind eben „Spezialisten für alles“, . wie man in Baden-Baden den Roth-Vorgänger Hans Rosbaud bereits nannte.
Als „Chamäleonorchester“ wird es von seinem Gründer liebevoll bezeichnet. Dass Roth – 1971 im noblen Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine als Sohn des berühmten Organisten an Saint-Sulpice, Daniel Roth, geboren – auch regelmäßig Jazz hört und in Rundfunksendungen Musik von Dizzy Gillespie, George Benson oder Stevie Wonder mitbringt, wundert kaum.
Das Mozart-Ligeti-Projekt ist auch um zwei Soloinstrumente herum geplant, die an jedem der beiden Abende die Hauptrolle spielen, aber – wie die Königskinder – nicht zusammenkommen können. Die Dramaturgie sorgt hier für eine Art reziproker Balance: Während die Geigerin am ersten Abend vor der Pause Ligetis Violinkonzert und der Pianist nach der Pause Mozarts A-Dur-Konzert KV 488 auf dem Hammerflügel spielt, steht am zweiten Abend vor der Pause der Pianist mit Ligetis Klavierkonzert im Mittelpunkt und die Geigerin nach der Pause in Mozarts G-Dur-Konzert KV 216. Dass bei dieser Planung auch noch ein ausgereiftes Komponisten-Doppelporträt zustande kommt, ist natürlich kein Zufall: Die jeweils vier Werke zeigen Mozart als Verfasser erlesenster Gesellschaftskunst (Konzerte), festlich-feurig (Haffner-Sinfonie), kühn-leidenschaftlich (Sinfonie g-moll KV 550) und Ligeti, den Folkloristen (Concerto Romanesc).
Les Siècles: Erfolge, Gastspiele und Projekte im Überblick
Das Orchester Les Siècles (Die Jahrhunderte) wurde 2003 von Francois-Xavier Roth ins Leben gerufen, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Werke des 17. bis 21. Jahrhunderts möglichst authentisch zu erarbeiten. Mit seinen kontrastreichen Programmen gastierte es bereits in ganz Europa, Japan und China. Gemeinsam traten sie beim Berliner Musikfest, den BBC Proms und dem Enescu-Festival sowie in der Hamburger Elbphilharmonie auf.
Zu ihren Projekten gehörte die Nachempfindung des Originalklangs von Strawinskys „Le sacre du printemps“ in Zusammenarbeit mit den Tanzkompanien von Pina Bausch und Dominique Brun sowie die Aufführung eines Zyklus der Beethoven-Sinfonien im Palais de Versailles zum Jubiläumsjahr des Komponisten.
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