Schwetzingen. Tabea Zimmermann ist die Königin der Bratsche. Zumindest taucht sie unter diesem Namen immer wieder im Feuilleton auf. Zu Recht: Für das Ansehen der Bratsche hat Tabea Zimmermann viel getan – unter anderem deshalb gilt sie in der Klassikszene als Star und spielt in den bekanntesten Konzerthäusern der Welt wie der New Yorker Carnegie Hall. Bei den SWR-Festspielen im Schwetzinger Schloss wird die Bratschistin als Residenzkünstlerin ein anspruchsvolles und sehr persönliches Programm darbieten.
Heike Hoffmann, die künstlerische Leiterin der SWR-Festspiele, und Sie haben eine Gemeinsamkeit: Sie beide sind kulturpolitisch beschäftigt. Denn seit diesem Jahr sind Sie Präsidentin der Hindemith-Stiftung und Stiftungsratsvorsitzende der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung. Warum ist Ihnen dieses Engagement so wichtig?
Tabea Zimmermann: Eigentlich habe ich mich bis vor Kurzem als ausführende Künstlerin und Lehrerin definiert. Bei der Hindemith-Stiftung arbeite ich seit zehn Jahren als Mitglied des Stiftungsrates mit – das war mir ein großes Anliegen, weil ich die Musik von Paul Hindemith sehr schätze und finde, dass für das Verständnis von Hindemiths Musik noch mehr getan werden muss.
Haben Sie gleich zugesagt, als Sie Präsidentin werden sollten?
Zimmermann: Mein wunderbarer Vorgänger Andreas Eckhardt hatte seine Präsidentschaft mit dem 80. Lebensjahr abgelegt und mich als Nachfolgerin vorgeschlagen. Da wollte ich auf jeden Fall Ja sagen und nun arbeite ich mich nach und nach in die verschiedenen Bereiche ein. In mein Aufgabengebiet fällt jetzt zum Beispiel die Aufsicht des Hindemith-Instituts in Frankfurt. Da haben wir in diesem Jahr einige Schwierigkeiten zu meistern, weil das Institut – bedingt durch die Raumnot an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK) – nach einem neuen Zuhause und neuen Vernetzungen suchen muss.
Und wie war das bei der Ernst-von- Siemens-Musikstiftung?
Zimmermann: Bei der Siemens-Musikstiftung lief es etwas anders. 2020 habe ich dort den großen Musikpreis des Jahres bekommen – das fiel mitten in die Corona-Zeit und wurde dann erst im Juni 2021 nachgeholt. Durch die Verzögerung hatte ich das große Glück, von der Stiftung ein weiteres Jahr betreut zu werden und dadurch die Arbeitsweisen der Stiftung besser verstehen zu können. Schließlich gab es im letzten Jahr einen entscheidenden Wechsel, weil mein Vorgänger Peter Ruzicka im Alter von 75 Jahren sein Amt abgab. Als dann der Wunsch kam, dass ich dieses Amt übernehme, war ich tatsächlich zuerst sehr überrascht und natürlich auch erfreut, dass man mir das zutraut. Dieses Jahr im Mai werde ich direkt nach den Schwetzinger Festspielen zum ersten Mal den Ernst-von-Siemens-Musikpreis 2024 vergeben.
Die Konzerte
„Lamento“ am Mittwoch, 15. Mai, 19.30 Uhr im Mozartsaal: Werke von György Ligeti, György Kurtág, Paul Hindemith, Benjamin Britten und Edwin York Bowen. Mitwirkende: Natalya Boeva (Mezzosopran), Tabea Zimmermann (Viola), Sophie Kiening (Viola), Arcan Isenkul (Viola), Jelena Antic (Viola), Anouchka Hack (Violoncello), Oliver Herbert (Violoncello), Agnès Clément (Harfe). Es gibt noch Tickets.
Tabea Zimmermann & Freunde am Freitag, 17. Mai, 19.30 Uhr im Mozartsaal: In diesem Programm klingt es atmosphärisch nach: Debussys Triosonate aus seinem letzten Werkzyklus und René Leibowitz’ Entgegnung darauf; aber auch Beethovens Pastorale in der Bearbeitung für Streichsextett mit Adam Walker (Flöte), Tabea Zimmermann (Viola), Agnès Clément (Harfe), Wassili Wohlgemuth (Violine), Abigél Králik (Violine), Natalie Loughran (Viola), Anouchka Hack (Cello), Oliver Herbert (Cello). zg
Das ist für Sie ein anderer Arbeitsalltag. Welche persönlichen Eigenschaften sind denn in Ihren neuen Ämtern ganz besonders gefragt?
Zimmermann: Man schätzt mich vielleicht dafür, dass ich mich nicht zurückhalte. Ich vertrete eine eigene Meinung und habe keine Angst davor zu beobachten, einzuschätzen und vielleicht klar zu formulieren, was in der Musikausbildung oder im Gebiet der klassischen Musik notwendig wäre oder auch gefährlich ist.
Was ist denn gefährlich?
Zimmermann: Ich bin sehr kritisch gegenüber vielen Entwicklungen im klassischen Bereich, bei denen versucht wird, nur des Geldes wegen mehr Masse zu erreichen – klassische Musik als Geschäftsmodell geht leider meist mit Einbußen in der Qualität einher.
In einem Interview haben Sie gesagt, dass Sie ein Verständnis für klassische Musik „von klein auf“ fördern möchten. Was halten Sie vom Konzept: „Klassik für alle“?
Zimmermann: Da wünsche ich mir ein größeres Verständnis bei den politischen Entscheidern, dass Topqualität eine große Breitenarbeit braucht. Wir sollten die musikalische Bildung von Kindern nicht als Gegenpol zur Spitzenförderung sehen – wir brauchen beides. Der Deutsche Musikrat steht seit Jahrzehnten für diese Vielfalt und repräsentiert Hunderte von Musikschulen, Vereinen sowie Jugendorchester und Wettbewerbe – und kämpft unermüdlich für kontinuierlicheren Musikunterricht an den Schulen. Manche Bundesländer setzen nun leider wieder genau da den Rotstift an, was sich auf die allgemeine Bildung der Kinder negativ auswirkt. Ich denke, dass fast alle Kinder bei Geburt musikalische Talente in sich tragen, die zu unserem Menschsein genauso dazugehören wie Sprache und Bewegung. Musik von Anfang an durch gemeinsames Singen, rhythmisches Tanzen und Klatschen auf einfachstem Niveau für alle erlebbar zu machen, ist meine Mindestforderung. Das ist die Basis für eine musikalische Entwicklung. Daher stehe ich sehr wohl dafür, Klassik allen durch praxisorientiertes Musizieren zugänglich zu machen.
Nicht nur Klassik wollen Sie Ihrem Publikum zugänglich machen: Sie setzen sich auch für die Sichtbarkeit unbekannter Kompositionen ein – mehr als 50 Werke haben Sie bereits uraufgeführt. Was begeistert Sie so an neuer Literatur?
Zimmermann: Zum einen sind es die neuen Werke an sich. Zum anderen ist es die spezielle Arbeitsweise, die ich durch die Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik gelernt habe. Denn in der Klassik besteht manchmal die Gefahr, dass wir aus Tradition etwas so spielen, wie man es im Ohr hat – es liegen für die großen Werke der Klassik zahlreiche Aufnahmen vor. Auch junge Studenten lernen viele Stücke über Aufnahmen kennen. Ich sehe das als großes Problem, denn dann geht es nicht ums aktive Kennenlernen und eigene Interpretieren. Das habe ich über völlig neue Musik gelernt, bei der es ja meistens noch keine Aufnahmen gibt. Und wenn ich jetzt eine Uraufführung spiele, bin ich eben die Erste, die mit diesem musikalischen Material zu tun hat. Aufgrund dieser Arbeitshaltung gehe ich heute auch an die älteren Werke des Kanons anders heran: Ich lese eine Beethoven-Partitur nun mit anderen Augen und hinterfrage jede Phrase, die ich spiele. Diese Erfahrung wünsche ich eigentlich jedem Musiker – zeitgenössische Musik ist ein toller Lehrmeister.
Bei Ihrem Konzert „Lamento“ werden Sie in Schwetzingen Paul Hindemiths Komposition „Des Todes Tod, Opus 23a“ spielen – auch ein eher unbekanntes Werk. Was macht dieses Stück vor allem für Bratschisten so besonders?
Zimmermann: Auch viele Musiker kennen das Stück nicht. Es ist ein kleines Juwel von Hindemith, das erst einmal intensiv beleuchtet werden muss. Ich finde an diesem Werk vor allem die Kombination von Klangfarben sehr außergewöhnlich.
Die Musikwissenschaftlerin Lotte Thaler nennt Hindemith einen „Hausgott“, wenn es um Kompositionen für Bratsche geht. Bekannt war er aber auch als „Bürgerschreck“, weil er mit scharfen Dissonanzen gearbeitet hat – können Sie diesen Zwiespalt anhand „Des Todes Tod“ nachvollziehen?
Zimmermann: Das Stück hat eine dunkle Basis: Vier tiefe Streicher und eine Gesangsstimme, die sich über diesem Klangbett entfaltet. Dadurch entstehen hauptsächlich dunkle Akkorde, bei denen weder Tonart noch Stimmführung eindeutig bestimmt werden können. Wenn man dieses Werk hören würde, ohne zu wissen, wer es geschrieben hat, hätte man große Schwierigkeiten, es Hindemith zuzuschreiben – vielleicht haben wir von ihm eine zu schmale Etikettierung. Aber Hindemith hat eben in vielen seiner Werke eine ganz andere, eher fantasievolle Übersetzung von Texten vorgenommen. Hier der Zwiespalt: „Des Todes Tod“ – also die Vorstellung, dass der selbst der Tod sterben könne, besteht am Schluss dieses Stückes nicht mehr. Im dritten Satz befinden sich nämlich nur noch die Gesangsstimme und die erste Bratsche im Dialog. Die Musik lichtet sich damit nach und nach auf eine besondere Weise.
Sie sagen, dass die Bratsche ein philosophisches Instrument ist. Wie meinen Sie das?
Zimmermann: Die Bratsche hat den Luxus, nicht so sportlich-virtuos oder vordergründig auftreten zu wollen wie die erste Geige. Bratscher müssen mehr nachdenken, weil sie in der Mitte des Ensembles sehr viel ausgleichen müssen – und dauernd Impulse von allen Seiten aufnehmen. Die Bratsche hat dadurch eine besondere Stärke, die aber nicht immer durchkommt. Zudem gibt es sehr viele spielerische Möglichkeiten auf dem Instrument. Aber ich als Künstlerin muss das gut von außen reflektieren und einordnen können, sonst spiele ich ja einfach nur Töne. Und das hat mit Musik noch nichts zu tun.
Ihre Musik begeistert. Zu Ihren Bewunderern zählte einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts: György Ligeti. Als er Sie bei einem Konzert spielen hörte, hat er Ihnen eine Solosonate gewidmet, die Sie in Schwetzingen spielen. Wie haben Sie damals reagiert?
Zimmermann: Das hatte zwei kontrastierende Seiten. Also einerseits war das eine irrsinnig große Ehre und wahnsinnig toll. Ich dachte: Ligeti schreibt für mich – das ist fantastisch! Dann kamen die Noten an und ich saß vor enormen Schwierigkeiten. Diese musste ich erst einmal bewältigen und verdauen. Jetzt ist das Stück 30 Jahre alt. Und ich muss sagen: Ich knabbere heute noch daran.
Wie schwer war das Stück denn?
Zimmermann: Jeder einzelne der sechs Sätze birgt extreme Schwierigkeiten – Ligeti orientierte sich damals an der Violinenliteratur. Er hat alle Klangkombinationen, die bei Bachs Fugen, Paganinis Capricen oder Bartoks Solosonate zu finden sind, eins zu eins auf die Bratsche übertragen. Das ist enorm schwierig, weil das Material der Bratsche schwerer zu bedienen ist, als das der Geige – die Abstände sind größer und die Saitenwiderstände höher. Es braucht daher in jeder Sekunde unheimlich viel Zeit und Können, um Ligetis spezifischen Klang bei dieser Sonate umsetzen zu können.
Haben Sie Ligeti erzählt, wie schwierig sein Stück ist?
Zimmermann: Dazu fällt mir eine kleine Geschichte ein: Ich war im Übeprozess – es waren die Wochen vor der Uraufführung von Ligetis Bratschensonate. Dann hatte ich ein Gespräch mit seiner persönlichen Assistentin und habe gesagt: „Das ist wirklich das schwerste Stück, das ich je gesehen habe. Ich weiß noch nicht, wie ich das schaffen soll.“ Sie antwortete: „Sag ihm das! Das wird ihn freuen.“ Als ich György Ligeti schließlich in Hamburg getroffen habe, wollte ich ihm nach einiger Zeit sein Stück vorspielen, um zu zeigen, wie weit ich in der Vorbereitung kam. Gleich zur Begrüßung habe ich gesagt: „Also so ein schwieriges Stück habe ich noch nie gesehen.“ Ligeti hat ganz schelmisch geantwortet und gesagt: „Ist das nicht sonderbar? Alle wollen ein Stück von mir und alle sagen immer, dass es das Schwerste ist, was sie bisher gespielt haben.“ Er hat mit der Schwierigkeit des Stückes kokettiert (schmunzelt).
Sie spielen nicht nur Ligeti, sondern auch Beethovens 6. Symphonie – allerdings wird diese in einer besonderen Kammermusikbesetzung zu hören sein. Verändert sich dadurch der Klang der „Pastorale“?
Zimmermann: Ich finde es wahnsinnig spannend, dass ein Zeitgenosse von Beethoven eine Sextettfassung erstellt hat, die ich bei meiner Arbeit im Beethovenhaus vor ein paar Jahren entdeckt habe. Eigentlich ist es faszinierend, dass man in dieser Streicherfassung mit nur sechs Spielern das ganze Orchester hören kann. Das heißt: Die Einwürfe der Klarinette, der Flöte und des Horns sind so geschickt eingearbeitet und verteilt, dass trotz der kleinen Besetzung alles gut nachvollziehbar bleibt.
Ihr Programm ist voller Wegbegleiter und Vorbilder ihres Schaffens. Geschieht das in Anlehnung an das Motto „Da Capo“ – weil Heike Hoffmann ja auch alte Bekannte eingeladen hat?
Zimmermann: Das ist reiner Zufall. Vielleicht hat ihr mein Programm auch deshalb gefallen (lacht). Ich versuche mir immer eine Mischung aus Themen, die mich aktuell interessieren und Menschen, denen ich in letzter Zeit begegnet bin, herauszusuchen. Es soll in jedem Fall Kammermusik auf höchstem Niveau geboten werden. Ich würde keine rein unterhaltende Musik vorschlagen. Es muss schon immer auch ein künstlerischer Anspruch in den Werken enthalten sein. So, dass es etwas zu knabbern gibt: für den Spieler – und für den Hörer. Und ich stelle fest, dass mein Publikum mir oft dafür dankbar ist, dass ich auch Trauer, Verzweiflung oder Themen, die sonst ungern in der Öffentlichkeit besprochen werden, auf der Bühne verarbeite.
Was wünschen Sie sich für das letzte Festspieljahr mit Heike Hofmann – wie sollen die SWR-Festspiele in diesem Jahr werden?
Zimmermann: Ich freue mich natürlich, dass ich mit dem Belcea-Quartett (10. Mai) kommen kann. Wir machen im Mai eine Tournee und da ist auch Schwetzingen eine der Stationen. Ich wünsche Heike Hofmann zudem einen großartigen Abschluss. Und vor allem, dass alle ihre Wünsche sowie die Begegnung von Künstlern und Komponisten mit dem Publikum gut gelingen. Ich hoffe sehr, dass alles so lebendig ist, wie sie sich das vorstellt. Heike Hoffmann hat hier über all die Jahre eine wirklich großartige Arbeit geleistet.
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