Speyer. Thomas Lehr ist in Speyer aufgewachsen und lebt in Berlin. Er gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller im deutschsprachigen Raum. In seinem neuen Roman „Manfred“ wird die Hauptfigur von Außerirdischen besetzt – doch es könnte auch der Autor selbst sein, der mit seinem Romanpersonal ringt. Darüber spricht Thomas Lehr, der bei Speyer.Lit am Mittwoch, 28. Februar, 19.30 Uhr, im Historischen Ratssaal liest, im Gespräch mit dieser Redaktion.
Die Hauptfigur Ihres Romans, der Manfred, wird von Außerirdischen besetzt. Dennoch entzieht sich das Buch dem klassischen Genre des Science Fiction. Ist das richtig?
Thomas Lehr: Ja. Der Roman greift zwar Themen auf, die in der Gattung des Science Fiction verhandelt werden. Dennoch wollte ich sie dem Science Fiction nicht überlassen. Themen wie Künstliche Intelligenz, Philosophie des Bewusstseins oder Fragen nach dem Universum sind meines Erachtens auch philosophische Fragen. Literarisch orientiere ich mich ja auch eher an der klassischen Satire oder der Groteske, wie wir das von Laurence Sterne, Jonathan Swift oder E.T.A. Hoffmann bis zu Goethes Faust kennen.
Es könnte aber auch sein, dass die Außerirdischen nur die Masken des Autors sind, derer er sich befleißigt.
Lehr: Dieser Subtext kommt in allen meinen Romanen vor. Ich spiele mit dem Künstlersubjekt, das sich wie ein Außerirdischer verhält. Insofern kann man das Buch durchaus auch als ein ironisches Selbstporträt lesen.
Es geht um das Recht der Romanfiguren auf ein Eigenleben.
Lehr: Ja. Selbst der tumbe Tor Manfred entwickelt gegenüber den übermächtigen Außerirdischen eine gewisse List und Widerspenstigkeit. Gute Literatur beginnt meines Erachtens nach da, wo sich die Figuren gegen ihren Autor wehren.
Hatten Sie am Ende das Gefühl, dass Sie als Autor Ihren revolutionierenden Figuren unterlegen sind?
Lehr: Nein, ich bin ein Schriftsteller, der seine Geschichten und die darin verwobenen Figuren durchaus rigoros kontrolliert. Aber ich lasse sie gerne stärker werden und wachsen. Dadurch wird das Buch lebendiger und es geschehen Dinge, die ich so nicht vorhergesehen und geplant habe.
Man kann den Roman auch als ironisches Pamphlet über die eher bescheidene geistige, seelische und moralische Ausstattung des Menschen lesen. Wäre die Menschheit nicht besser dran, wenn man sie, wie es im Roman geschieht, durch etwas Manipulation auf einen besseren Weg brächte – durch einen Chip im Gehirn zum Beispiel?
Lehr: Die zehn Kapitel enthalten zehn Qualifikationen für eine Menschheit, die als zivilisiert gelten kann. Aber dass eine Künstliche Intelligenz gewissermaßen die Regierung über diese Zivilisation übernehmen sollte, wäre eine Perspektive, die ich mir so nicht zueigen machen würde. Bloßer technischer Fortschritt macht noch keine Zivilisation.
Dass es mehr braucht als Technologie, dafür stehen im Roman Referenzfiguren wie René Descartes oder Hieronymus Bosch.
Lehr: Ja. Descartes hat in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges den Weg aus der mittelalterlichen geistigen Gefangenschaft gewiesen und die Moderne eröffnet. Descartes verkörpert für mich ein Subjekt, dass sich in der Dialektik zwischen geistiger Klarheit und finsterer Rückschrittlichkeit seine geistigen Freiräume erschaffen hat.
Eine kunsthistorische Referenzfigur in Ihrem Roman ist Hieronymus Bosch. Wieso?
Lehr: Ich habe nach Figuren gesucht, die zu ihrer Zeit den Anschein erweckt haben, über den Tellerrand schauen zu können. Es hat mir Spaß gemacht, die jämmerliche und kärgliche Welt des Alltagsmenschen Manfred ein wenig zu bebildern. Und Bosch steht für die Explosion von Sinnlichkeit und Intelligenz.
Die Außerirdischen werden immer aktiv, wenn sich eine Figur im Roman dem „zutreffenden Gedanken“ nähert. Worum geht es dabei?
Lehr: Dem Roman liegt ein bestimmtes Modell des Universums zugrunde. Ich wollte das Fermi-Paradoxon des Physikers Enrico Fermi lösen, das besagt, angesichts so vieler Galaxien im Kosmos müsste es Milliarden von bewohnten Planeten geben. Es stellt sich dann die Frage: Wieso besucht uns niemand? Dem stelle ich die Lehrsche Vermutung entgegen: Weil es keiner soll. Der „zutreffende Gedanke“ wäre: Wie käme man aus dem Universum raus, und die Botschaft lautet: Wir sollen nicht rauskommen, solange wir so unzivilisiert leben.
Der Subtext könnte besagen: Die Romanfiguren sollen nicht mitkriegen, dass sie Erfindungen eines Autors sind.
Lehr: Ja. Es ist bisher in der Tat noch wenigen Figuren gelungen, aus der Wirklichkeit eines Romans auszubrechen.
„Manfred“ ist ein sprachmächtiges und komplexes Werk. Wie anspruchsvoll war es für Sie selbst, einen Roman auf diesem hohen Niveau zu schreiben?
Lehr: „Manfred“ ist ein Nebenwerk von mir aus der Zeit der Pandemie. Eigentlich schreibe ich an meiner Romantrilogie, die ich als wesentlich anspruchsvoller erachte. „Manfred“ war eine Art Capriccio, eine Erholung. Er wurde am Ende allerdings wesentlich komplexer und anspruchsvoller als ich dachte und artete in Arbeit aus.
Wie wird sich die Arbeit an „Manfred“ auf Ihr schriftstellerisches Hauptprojekt auswirken?
Lehr: Sie hat es von Themen entlastet, die ich dort nicht bearbeiten kann, etwa was die Künstliche Intelligenz oder die Philosophie des Bewusstseins betrifft.
Was bedeutet es Ihnen, wieder einmal in Ihrer Heimatstadt Speyer zu lesen?
Lehr: Ich freue mich auf Speyer, auch weil ich dort alte Bekannte wiedersehe. Seit meine Eltern verstorben sind, bin ich nicht mehr so oft in der Stadt wie früher.
Hat Ihre Schriftstellerkarriere Ihrer Heimatstadt entscheidende Anstöße zu verdanken?
Lehr: Speyer ist irgendwie seltsam. Einerseits ist es eine hochbedeutende Stadt, wenn man an das Mittelalter denkt, andererseits ist die Stadt doch eher provinziell geblieben. Ein Städtchen, in dem man sich langweilen kann, aber auch ein Ort mit großer Vergangenheit. Und irgendwie schafft es Speyer immer wieder, etwas Besonderes hervorzubringen. Bild: Lohmüller
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/orte/speyer_artikel,-speyer-thomas-lehr-liest-bei-speyerlit-aus-seinem-buch-manfred-_arid,2173335.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.schwetzinger-zeitung.de/orte/speyer.html