Speyer. Der Debütroman „22 Bahnen“ der Berliner Schriftstellerin Caroline Wahl wurde mehrfach ausgezeichnet und von der Kritik gelobt. Bei ihrer Lesung am Freitag, 9. Februar, um 19.30 Uhr im Alten Stadtsaal wird die junge Autorin in der Reihe Speyer.Lit ihr Buch über zwei Schwestern vorstellen, die ihr Leben alleine in die Hand nehmen müssen, weil ihre Mutter alkoholkrank ist. Im Interview spricht Caroline Wahl über den Erfolg und die Thematik ihres Romans.
Frau Wahl, wie erklären Sie sich den großen Erfolg, den Sie mit Ihrem Debütroman erzielt haben?
Caroline Wahl: Ich glaube, es war der richtige Text zum richtigen Zeitpunkt. Er scheint einen Nerv getroffen zu haben und viele Menschen anzusprechen. Auch betrifft so eine Coming-of-Age-Geschichte irgendwie alle. Aber letztendlich kann ich mir diesen Erfolg natürlich nicht erklären.
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Was hat Sie dazu bewogen, einen Roman zu schreiben, in dessen Mittelpunkt das Leben zweier Schwestern mit einer alkoholkranken Mutter steht?
Wahl: Ich hatte einen doofen Job und in mir den Wunsch verspürt, einen Roman zu schreiben und nicht nur davon zu träumen. Das Schreiben war dann wie ein Schutzraum, wenn ich mich abends oder an Wochenenden hingesetzt habe.
Der Roman wirkt authentisch, aus dem Leben gegriffen. Wie ist Ihnen das gelungen?
Wahl: Ich wollte partout nicht über mich selbst schreiben. Ich wusste, dass ich eine junge, starke Heldinnenfigur wie Tilda erschaffen möchte, die aus schwierigen Verhältnissen kommt und sich durchboxt. Ich hatte damals Umgang mit einer alkoholkranken Person und deswegen ist die Mutter dann irgendwie alkoholkrank geworden. Aber natürlich hatte ich Angst vor diesem Thema, weil ich nicht aus einer solchen Familie komme und viel recherchieren musste. Abgesehen davon ist das meiste ausgedacht – und das ist für mich das Schöne am Schreiben: Dass die Welt und die Figuren, die man erfindet, sich immer echter anfühlen.
Die alkoholkranke Mutter wird im Roman als „Monster“ bezeichnet, erscheint aber zugleich als hilfloses Opfer. Ist der Roman auch eine Geschichte über Vorurteile?
Wahl: Ja. Ich wollte zeigen, dass die Mutter eigentlich kein Monster ist, sondern dass der Alkohol sie zu diesem Monster macht. Es ist ja viel Liebe da, trotz des Kontrollverlusts, den die Mutter wegen des Alkohols immer wieder erleidet. Aber man sollte Menschen nicht auf den ersten Blick beurteilen. Selbst die Familie von Tildas Freundin Marlene, die nach außen hin eine Abendbrottisch-Familie wie aus dem Bilderbuch zu sein scheint, hat Probleme. Und irgendwie schaffen es die beiden Töchter Tilda und Ida der alkoholkranken Mutter ja trotz allem, sich gemeinsam etwas Schönes aufzubauen.
Was könnte die Gesellschaft daraus lernen?
Wahl: Wir sollten mehr zuhören und mit den Menschen reden, anstatt uns gleich Urteile zu bilden. Wenn es Probleme gibt, schauen viele erst einmal weg, anstatt mal hinzugehen und zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Viele Betroffene suchen eben nicht von sich aus Hilfe, weil sie sich nicht trauen und sich schämen.
Ihr Roman öffnet Fenster oder Türen, die eine Veränderung zum Guten versprechen. Das heißt, Krisen müssen nicht ausweglos sein, oder?
Wahl: Ja. Tilda ist eine Art Vorbild, wie man das Beste aus einer schwierigen Situation machen kann.
Dabei ist es wichtig, Verbündete zu haben.
Wahl: Ja, man sollte die Menschen, die einem wichtig sind, nicht nur wertschätzen, sondern auch beschützen und auf sie aufpassen.
Auch das Lesen entpuppt sich als rettende Kraft. Wie schafft Literatur das?
Wahl: Indem sie neue Welten und Fluchtmöglichkeiten eröffnet. Als Kind hatte ich auch nicht nur gute Zeiten. Dann habe zu lesen angefangen. In der Stadtbücherei habe ich mir viele Bücher ausgeliehen. Ich habe gelesen, wo ich konnte – im Bus, in der großen Pause. Das hat mir extrem geholfen und mir krasse Glücksmomente beschert. Das ist bis heute so.
Man kann Ihren Roman als Buch über die Stärke des Menschseins in Krisenzeiten lesen.
Wahl: Man ist ja manchmal verblüfft von sich selbst, wenn man es schafft, in schwierigen Situationen gut und pragmatisch zu reagieren. Da ist eine Kraft in uns, die uns handeln und nicht so schnell aufgeben lässt. Das geht umso besser, je stärker man mit anderen verbunden ist.
Aber die Familie an sich scheint in Ihrem Roman ein Ort des Grauens zu sein. Welches Familienbild wollten Sie mit Ihrem Roman vermitteln?
Wahl: Ich glaube, dass jede Familie ihre eigenen Probleme mit sich herumträgt. Ich selbst bin sehr behütet und mit drei Geschwistern aufgewachsen. Aber jede Familie knabbert an irgendeinem Problem, das dann in der Regel totgeschwiegen wird.
Ihr Roman heißt „22 Bahnen“ nach der Zahl der Bahnen, die Tilda regelmäßig schwimmt. Hat die 22 eine bestimmte Bedeutung?
Wahl: Nein, ehrlich gesagt nicht. 20 Bahnen waren mir beziehungsweise Tilda zu gewöhnlich und ich dachte, 22 wäre doch eine schöne Zahl für so einen leicht neurotischen Kontrollfreak wie Tilda. Wer mehr in diese Zahl hineinliest, der darf es mich gerne wissen lassen.
Für Mai ist ja schon Ihr nächster Roman „Windstärke 17“ angekündigt. Dort taucht Tildas Schwester Ida wieder auf. Handelt es sich demnach um einen Fortsetzungsroman?
Wahl: Er kann unabhängig von dem ersten Roman gelesen werden. Aber es geht um Ida aus dem ersten Roman, die jetzt 21 Jahre alt ist, traumatisiert und mit Schuldgefühlen beladen …
… wieso Schuldgefühle?
Wahl: Weil sie sich vorwirft, sich nicht genügend um die Mutter gekümmert oder Hilfe geholt zu haben. Sie wird dann von einem Kneipenbesitzer und dessen Frau aufgenommen und aufgepäppelt wie ein abgestürzter Vogel.
Betrachten Sie „22 Bahnen“ als Grundstein für eine Schriftstellerkarriere?
Wahl: Ja, auf jeden Fall. Ich freue mich auf alles, was kommt. Gerade schreibe ich am dritten Roman und finde es so schön, sich immer wieder in neue Schreibprojekte voll reinzuschmeißen. Ich möchte nie wieder etwas anderes machen.
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