Mannheim. „Wir haben wohl die Kurve gekriegt“, freut sich Susanne Woll, stellvertretende Marktleiterin im Mühltaler Gartenmarkt südöstlich von Darmstadt. Und meint wohl ganz allgemein die Gemeinschaft der Gartenfreunde, die seit geraumer Zeit ungeahnten Zulauf erhält. Es sei nicht lange her, da hätten viele ihrer Kunden vor allem nach Schotter in unterschiedlichen Grautönen für ihren neuen, pflegeleichten Steingarten gesucht. Das, sagt sie, sei weitgehend vorbei.
Die Deutschen hegen und pflegen ihre Gärten mit neuer Inbrunst - und entdecken dabei den Gemüseanbau neu: Der Verkauf von schneckensicheren Hochbeeten boomt, sogar beim Discounter Lidl sind sie aktuell im Angebot. Rasenstücke werden abgetrennt, um Platz zu schaffen für Bohnen und Tomaten. Kultiviert wird auf der kleinsten Fläche: „Der eigene Garten“, vermutet Woll, „ist zur Zufluchtsstätte geworden“.
Ähnlich sieht es der Handelsverband Heimwerken, Bauen und Garten (BHB): Er registriert im gesamten Bundesgebiet eine steigende Nachfrage nach Saatgut und Anzuchtpflanzen als Folge eines gesteigerten Bedürfnisses zur Selbstversorgung und einer Rückbesinnung auf den eigenen Nutzgarten. Wer keinen Garten hat, sucht nach platzsparenden Lösungen für den Balkon.
„Selbstversorgergärten boomen seit Beginn der Corona-Pandemie“, bestätigt ein Sprecher der Hornbach Baumärkte. Die Nachfrage nach Pflanzerde, Dünger, Samen und Setzlingen steige. Sogar Home Farming sei im Kommen, zu merken unter anderem an einem zunehmenden Absatz von Geflügelfutter. Seit Beginn der Pandemie verbringen die Menschen wieder mehr Zeit zu Hause. Der Krieg in der Ukraine erneuert die Sehnsucht nach Geborgenheit. Inflation und die spürbar anziehenden Lebensmittelpreise tun ein Übriges.
Cocooning tauften Sozialforscher bereits in den späten 1980er Jahren den Wunsch vor allem vieler junger Menschen, sich in den eigenen vier Wänden einzukuscheln und einer zunehmend unübersichtlichen Welt den Rücken zu kehren. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wollen sich unabhängiger machen - auch von leeren Regalen im Supermarkt. Es wird fermentiert, eingelegt und Brot gebacken wie zu Großmutters Zeiten. Im Web wetteifern 20-jährige Influencer mit Bauanleitungen für mehrstöckige Marzipan-Torten. Wer etwas auf sich hält, reflektiert im eigenen Blog über die perfekte Konsistenz von Fruchtaufstrichen, den eigenen Bienenstock und die Wiederkehr des Römertopfs.
„Einzelhandels- und Konsumgüterunternehmen müssen ihre Produkt- und Dienstleistungsportfolios anpassen“, raten die Consumer Research-Experten der Beratungsgesellschaft Accenture: Die im Zuge der Corona-Pandemie zu beobachtende Rückbesinnung der Menschen auf ihre heimische Community werde langfristig sein und ein „Jahrzehnt des Zuhauses“ mit sich bringen. Einzelhändlern und Herstellern empfehlen sie, ihren Kunden mit Produkten und Dienstleistungen „ein stärker lokal ausgerichtetes Erlebnis zu bieten“.
Accenture befragte mehr als 8000 Menschen aus 20 Ländern. Sichtbar werde daraus ein anhaltendes Unbehagen gegenüber öffentlichen Räumen. Außerdem schrumpfen derzeit die Haushaltseinkommen: „Das Zuhause ist der neue Horizont - es ist zum Arbeitsplatz, zur Schule und zu einem Ort geworden, an dem man neue Hobbys ausprobieren kann.“
Der Begriff Nachhaltigkeit sei inzwischen tief in den Werten der Deutschen verankert, ermittelte die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Der GfK Nachhaltigkeitsindex zeige, dass sogar die Bereitschaft, für nachhaltige Produkte höhere Preise zu bezahlen, seit Februar trotz leichter Rückgänge weitgehend stabil geblieben ist.
Doch schlägt sich dieser Trend nicht automatisch in steigenden Umsätzen nieder. „Schon zu Beginn der Coronakrise hatten die Menschen verstärkt Gemüse und Obst angebaut“, sagt Afra Stoll vom Mannheimer Gartencenter Beier. Um etwa zehn Prozent sei die Nachfrage nach Utensilien für den Obst- und Gemüseanbau gegenüber 2019 gestiegen, schätzt sie. Und auch Peter Schulz vom Blumenhaus Schulz bei Darmstadt ist skeptisch: Schließlich verfügten immer weniger Menschen in Ballungsgebieten über die nötige Fläche für die Selbstversorgung: „Die Grundstücke werden immer kleiner, der Platz ist nicht einfach mehr da.“ Trotz leichter Zuwächse in der Pandemie sei der Umsatz mit Anzuchtpflanzen im Zehn-Jahres-Vergleich deutlich zurückgegangen.
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