Hockenheim. Es kommt ein lebendiges Gespräch bei der vierten Auflage der Talk-Reihe „Kurpfalz Horizonte“ in der Hockenheimer Zehntscheune zustande, das mit dem Ausspruch „Bitte, Staat, übernehmen Sie!“ seinen Finalpunkt erhielt.
Dennoch machte es stark betroffen, da die Wurzeln der Inhalte seit geraumer Zeit zu einem der tragenden Themen in der gesellschaftlichen Diskussion zählen: Missbrauch an Kindern und der Umgang damit. Miteinander sprachen der Vizepräsident des Landtages Daniel Born (SPD) als Initiator der Runden mit brennenden Themen der Zeit und der Historie, als Betroffene Literaturwissenschaftlerin und angehende Theologin Johanna Beck, die in ihrer Kindheit und Jugend Missbrauch unterschiedlichster Ausprägung erfahren hat, sowie Professorin Dr. Julia Gebrande, die seit 2022 der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs des Bundes angehört und seit Januar 2024 deren Vorsitzende ist.
Im Publikum saß zwischen einigen Interessierten auch Lars Castellucci (SPD,) Mitglied des Deutschen Bundestages, einige Vertreter der Hockenheimer SPD – an ihrer Spitze Vorstand Jakob Breunig – sowie Dekan Uwe Lüttinger, der auch leitender Pfarrer der Seelsorgeeinheit Schwetzingen-Oftersheim-Plankstadt ist. Musikalisch begleiteten Birgit und Tobias Haak von der Stadtkapelle die Veranstaltung.
Tabu und tiefe Scham bei Missbrauchsopfern
Das Thema Missbrauch ist nach wie vor in all seinen Facetten mit einem Tabu und tiefer Scham der Betroffenen belegt: „Darüber spricht man nicht.“ Diese Aussage schwebt als Damoklesschwert über den von Missbrauch Betroffenen und jenen, die den Missbrauch wahrnehmen, von Betroffenen angesprochen werden, aber nicht wissen, wie sie reagieren sollen und können, um hilfreich zu sein. Es ist eher eine Art Schockstarre der Hilflosigkeit, die sie erfasst.
„Das Schweigen brechen“ ist entsprechend der Titel des rund einstündigen Austauschs in der Zehntscheune. In seiner Begrüßung bezog sich Jakob Breunig auf einen persönlichen Dialog: „Leider laufen solche Gespräche fast immer einseitig ab, der Hörende weiß nicht, wie er reagieren soll, das Gefühl, dem Täter Gewalt antun zu wollen, keimt auf.“
Damit befasse man sich allerdings dann mit dem Täter, wichtig wohl, jedoch bleibe in diesem direkten Kontakt der Betroffene doch wieder allein, obgleich dieser dringend der Unterstützung bedürfe. „Nähe anbieten und ein offenes Ohr“, so Breunig, wäre notwendig und weiterhin sein Weg in ähnlicher Situation.
Ein Appell, dem sich Professorin Dr. Julia Gebrande anschloss und mit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs mit dem Projekt „Geschichten, die zählen“ ein Portal für alle bereitstellt, die Missbrauch erlebt haben. Anonymisiert sind dort die Geschichten zu lesen, die für ihren Weg an die Öffentlichkeit oft Jahre oder Jahrzehnte brauchten und großen Mut erforderten. „In geschütztem Rahmen wird zugehört und es können schriftlich die Erfahrungen mitgeteilt werden“, erklärte Gebrande.
Kindesmissbrauch passiert häufig in der Familie
Die Kommission arbeite an der Definition und Aufklärung zum Nachweis der Taten. „Die Aufarbeitung setzt sehr viel später an und ist damit nicht gleichzustellen“, unterstrich Gebrande. Aus der wissenschaftlichen Auswertung der Erfahrungsberichte würden sich Empfehlungen zum Umgang mit der multiplen Verarbeitung von Kindesmisshandlung ergeben. Rund 3000 Menschen mit unterschiedlichsten Schilderungen hätten sich bereits geöffnet.
Missbrauch an Kindern passiere häufig in der Familie, im Sport, passiere überall dort, wo machtvolle Positionen dafür ausgenutzt würden. Jede Geschichte sei individuell und gerade deshalb ein pauschalisierter Umgang damit unrealistisch, klärte Gebrande auf. Beim Infotelefon „Aufarbeitung“, das unter der Nummer 0800/4 03 00 40 kostenfrei und anonym zu erreichen sei, gebe es auch Impulse für Unterstützer und Zuhörer. Das Wichtigste einhergehend mit Zeit und Zuhören sei die Frage „Was brauchst Du jetzt?“, sagte Gebrande.
Referentin in Hockenheim ist "fremdartig berührend"
Fremdartig berührend und doch in ihrer Aufarbeitung auch „seltsam und schizophren“, wie sie selbst es formulierte, war Johanna Beck zu erleben, die Daniel Born befragte: „Als Kind hast du eine Katastrophe erlebt, dich von der Kirche gelöst und bist zurückgekehrt und studierst Theologie?“
Ihre Mutter sei eine der führenden Personen der Katholischen Pfadfinderschaft Europas (KPE) gewesen, sie selbst damit schon in diese Gruppierung hineingeboren, in der Priester als „lebende Heilige und unantastbar“ galten, wie sie beschreibt. Sie habe sich, als es zum Missbrauch kam, gar nicht getraut, sich zu wehren, geschweige denn darüber zu sprechen. Wenn sie an ihre Kindheit denke, sei „Angst“ das absolut damit verbundene Schlüsselwort und dauerhafter Begleiter.
Zudem habe man ihr immer kommuniziert, dass ausgerechnet die Priester, die Einzigen wären, die wüssten, wie man allem Bösen, das sie selbst auch ausübten, entkommen könnte. Der betreffende Priester habe die Beichte, die absolutes Muss gewesen sei und nicht in der Abgeschiedenheit eines Beichtstuhls, wie man ihn kenne, stattfand, sondern in der gesamten Gruppe der Pfadfinder, für seine perfiden Zwecke genutzt.
Immer wieder habe er Details zum Thema Sexualität hinterfragt und diese „total pervertierten Beichtgespräche“ zu seiner persönlichen Befriedigung genutzt, schilderte Beck, die ihre Erlebnisse nicht im eigentlichen Schutzraum „Familie“ besprechen konnte, da die KPE ihre Familie gewesen sei.
Verfahren gegen Priester verjährt
Im Teenageralter habe sie zu rebellieren begonnen, mit 16 Jahren konnte sie endlich in eine andere Schule und eine andere Stadt. Sie habe ein klassisches Verfahren gegen den Priester einleiten lassen, das wegen „Verjährung“ erfolglos verlief. Das Ergebnis eines kirchlichen Verfahrens gegen den Priester kenne sie offiziell nicht, da es darüber kein Informationsrecht gebe.
Nachdem ihr Gottesbild früher „bedrohlich und strafend“ gewesen sei, habe sie Jahrzehnte danach, mittlerweile verheiratet und Mutter von drei Kindern, im Studium der Theologie einen Weg gefunden, die Basis des christlichen Glaubens positiv zu ergründen. Zudem habe ihr ein Pfarrer in Stuttgart zugehört und den so wichtigen, anerkennenden Schlüsselsatz „Ihnen ist Unrecht widerfahren“ gesagt.
Im Buch „Mach neu, was dich kaputtmacht“ hat sie ihre Geschichte niedergeschrieben und ihre Vision in Worte gefasst, wie Kirche zukunftsgewandt werden kann. Im direkten Zeitkontext zur Veröffentlichung der Untersuchungen zu Missbrauchsfällen in der evangelischen Kirche, die dem der bereits bekannt gemachten aus der katholischen Kirche so ähnlich sind, formulierten die drei Redner im Applaus der Zuhörenden einhellig die Aufforderung, die Aufarbeitung des Kindesmissbrauchs in die Hände des Staates zu geben. Kirchen könnten und wollten diese wichtige Aufarbeitung nicht, schützten die Institution Kirche, die Thematik müsse jedoch schonungslos angegangen werden.
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