100 Jahre

Turbulentes Jahrhundert für "MGV Eintracht" aus Hockenheim

Der Männergesangverein Eintracht wird 100 Jahre alt und blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Kassierer Rolf Stohner hat viel davon selbst erlebt und spricht im Interview über die Höhepunkte.

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Eine große Chorgemeinschaft: Über Jahrzehnte hinweg ist der MGV Eintracht als Gesangsensemble mit evangelischer Mitglieder-schaft in starker Besetzung aufgetreten. © MGV Eintracht

Hockenheim. Rolf Stohner ist das jüngste Mitglied des Hockenheimer Gesangsvereins „MGV Eintracht“ – und das im Alter von 65 Jahren. Seit 1974 singt er dort – wie vor ihm schon sein Vater. Stohner hat miterlebt, wie nicht nur der Verein, sondern auch seine Mitglieder immer älter werden. Dieses Jahr feiert der MGV Eintracht seinen 100. Geburtstag. Im Interview berichtet der Vereinskassierer Stohner von einer turbulenten Vereinsgeschichte. Zum einen von der Blütezeit zu Beginn der 1970er Jahre mit blühenden Festen, Konzertreisen, Ausflügen und buntem Karnevalstrubel. Zum anderen von Singstunden während des Zweiten Weltkriegs und dem folgenden Neuaufbau.

Jubiläum

MGV Eintracht aus Hockenheim wird 100

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Die Geschichte des MGV Eintracht begann bei Speis und Trank, oder?

Rolf Stohner: Am 4. November 1924 aßen die Gründungsmitglieder des Vereins im ehemaligen Hockenheimer Gasthaus „Zum Ritter“ in der Ottostraße. Es war zunächst eine kleine Sängerschar mit 36 Mann versammelt – damals gab es auch schon Vereine, die bis zu 100 Mitglieder hatten. Ins Leben gerufen wurde der MGV an diesem Tag durch Jakob Dorn, der den Verein auch finanziell unterstützt hat. Direkt im Anschluss wurde Dorn auch erster Vorsitzender.

Welche Menschen waren denn damals vor Ort?

Stohner: Es war natürlich ein reiner Männergesangsverein. Zu dieser Zeit hatten wir auch noch eine größere Trennung der Geschlechter. Dass auch Frauen bei der Gründung dabei waren, ist nicht bekannt.

Wie ging es nach der Gründung mit dem neuen Chor weiter?

Stohner: Der erste Schritt war, sich einen Dirigenten zu besorgen und eine Satzung zu entwerfen. Außerdem musste ein Ort gefunden werden, an dem geprobt werden kann. Damals war klar, dass man die ersten Singstunden direkt im Gasthaus „Zum Ritter“ abhalten kann. Dort durften die Sänger nur recht kurz bleiben, trotzdem wurde fleißig geprobt. Denn überliefert ist ebenfalls, dass in den Räumen des Hockenheimer „Rittersaals“ bereits 1926 ein kleines Konzert stattgefunden hat.

Die Fasnacht war über Jahrzehnte eine Spezialität des MGV Eintracht: Hier nimmt der Verein mit seinem Motivwagen Tabak-konzerne aufs Korn, die Rennställe sponsern. Motto: „War’s damals nur der Tabakrauch, so qualmen heut’ die Reifen auch“. © Jakob Roth

Wie hat sich der Männergesangsverein damals finanziert?

Stohner: Vor allem durch den Vorsitzenden Jakob Dorn und durch Mitgliedsbeiträge der Sänger. Festliche Veranstaltungen, durch die der Verein Geld bekommen hätte, gab es damals noch nicht.

Nach der Gründung kam ziemlich schnell die NS-Diktatur, die auch die künstlerische Freiheit unterdrückt hat. Wie erging es zu dieser Zeit dem MGV Eintracht?

Stohner: Das fünf- und das zehnjährige Bestehen wurde noch gefeiert, dann kam es durch den Zweiten Weltkrieg zu einer Dezimierung unserer Sängerschar. Viele Musiker wurden zur Wehrmacht einberufen. Laut den Unterlagen, die wir haben, wurde der Singbetrieb aber noch bis 1943 am Laufen gehalten. Dann musste dieser bis zum Kriegsende 1945 eingestellt werden. 1947 kam dann aber schon der Neubeginn. Die Sänger, die überlebt hatten und aus dem Krieg zurückgekehrt sind, haben im Gasthaus „Friedrichsbad“ in der Karlsruher Straße die ersten Singstunden wieder aufgenommen.

Gab es denn durch den Krieg einen großen Mangel an Sängern?

Stohner: Sehr erfreulich war, dass es gelungen ist, direkt nach dem Krieg wieder 100 Sänger zu sammeln.

Wie ist das gelungen?

Stohner: Zu dieser Zeit gab es eben wenig Alternativen, sich noch neben der Erwerbstätigkeit, bei der man sein Geld verdiente, noch zu beschäftigen. Damals war das Angebot an Vereinen noch nicht so groß wie heute – pro Stadt etwa ein Fußball- und Handballverein und dann noch ein paar Musikgruppen. So war es wohl relativ einfach, Leute dafür zu engagieren. Nach dem Krieg konnte man wohl relativ einfach durch Mundpropaganda die Stärke des Chors aufbauen. Dazu kam, dass es nach dem Krieg einen sehr fähigen Musiker gab, der die Eintracht leitete: Karl Kollmanssperger.

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Die Nachkriegszeit war ja auch die Zeit des Wiederaufbaus – welche Atmosphäre herrschte damals?

Stohner: Natürlich war ich damals noch nicht auf der Welt, aber ältere Mitglieder können aus dieser Zeit berichten. Der MGV war ein Bauernverein. Das heißt: Alle Bauern, die damals in Hockenheim lebten, waren praktisch Mitglied bei uns. Ein gewisser Zusammenhalt war also immer da, das hat man damals gespürt. Eine gute Mund-zu-Mund-Propaganda hat wohl dafür gesorgt, dass die Bauern aus dem Sigelhain oder aus der Seewaldsiedlung alle zu Mitgliedern wurden.

Gab es zwischen den einzelnen Gesangvereinen auch mal Streit?

Stohner: Wie im Sport auch gab es zwischen den einzelnen Gruppierungen Unterschiede – der eine war evangelisch, der andere katholisch. Die Liedertafel aus Hockenheim war der katholische und wir, die Eintracht, der evangelische Chor. Damals nahm man diese Trennung noch sehr ernst.

War der Chor ausschließlich in Hockenheim unterwegs?

Stohner: Ab den 1970er Jahren gab es viertägige Fahrten nach Österreich, Frankreich oder in den Schwarzwald. Die waren zum Teil so stark besucht, dass immer gleich zwei Busse gefahren sind. Das waren aber in erster Linie Familienausflüge.

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Hatten Sie auf diesen Reisen auch Auftritte?

Stohner: Später haben wir auch Konzertreisen gemacht, bei denen immer eingeplant war, dass wir in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Pfarrer einen Gottesdienst gestalten. Ansonsten gab es auch bunte Abende, bei denen kleinere Auftritte für Mitreisende oder Personal vor Ort stattgefunden haben.

Welche Literatur hat die Eintracht bei ihren Auftritten gesungen?

Stohner: Das waren deutsche Volkslieder, später auch geistliche Kompositionen, weil wir viele Auftritte als Kirchenchor geleistet haben – insbesondere auf unseren Konzertreisen. Da wussten wir ja, dass wir auf jeden Fall in einer Kirche auftreten werden. Volks- und Kirchenlieder haben sich die Waage gehalten.

1974 sind Sie in den Gesangsverein eingetreten. Was hat Sie damals begeistert?

Stohner: Eingetreten bin ich, weil mein Vater schon jahrelang gesungen hat. Ich wollte eigentlich noch gar nicht so früh rein, aber zu diesem Zeitpunkt stand das 50. Jubiläum vor der Tür. Für mich war das damals ein tolles Erlebnis. Oft war ich bei Sängerfesten als Kind mit dabei – schon immer war ich davon begeistert. Und es hat sich gelohnt: Denn der Aufbau beim Jubiläum des MGV 1974 ist für mich unvergesslich. Auf dem Sportgelände des HSV gab es ein Riesenzelt und neue Freundschaften wurden geschlossen. Abends traten die Schlagersänger „Nina und Mike“ auf. Einen bunten Abend gab es auch – mit Musikgruppen aus der ganzen Region. Die Feier ging drei bis vier Tage lang.

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In den 1970ern feierte aber noch eine andere Großveranstaltung des MGV Premiere, oder?

Stohner: Ja, das von uns veranstaltete Siedlerfest im Siegelhain auf dem Gehöft von Peter und Werner Christ war ein großes Vereinsfest in Hockenheim. Zum ersten Mal wurde es 1970 durchgeführt, am Anfang war es noch als reines Sängerfest gedacht. Später hat sich die Veranstaltung immer weiter ausgedehnt. Es waren schließlich bekannte Interpreten da, wie „Speedy Gonzales“ oder das „Alpenduo“. Auf den Parkplätzen rund um das Festzelt konnte man Autokennzeichen aus dem Stuttgarter Raum und aus Hessen entdecken. Das „Siedler- und Schlachtfest“ fand immer eine Woche nach dem Ketscher Backfischfest statt. Wir bekamen im Anschluss jedes Jahr von dort eine Gläserspülmaschine, die wir auch brauchten, weil der Andrang so groß war. Eine Spezialität war das Wellfleisch, das von unseren Musikern selbst zubereitet worden ist. Leider mussten wir das Fest 2010 altersbedingt einstellen.

Gefeiert wurde aber nicht nur bei Sänger- und Jubiläumsfesten, auch zur Fasnachtszeit hatte der MGV große Auftritte, die im Gedächtnis der Hockenheimer geblieben sind . . .

Stohner: Ja, wir hatten jahrelang eine sehr aktive Fasnachtsgruppe. Die Eintracht war 40 Jahre lang bei Umzügen in der ganzen Region dabei. Angefangen hatte das 1959 durch unser Mitglied Erwin Scharke, der vom Karneval sehr begeistert war. Manchmal hat er die Wagen ganz alleine gebaut, später hatte er Unterstützung, als wir Jugendlichen dazukamen. Wir waren eine Gruppe von ungefähr zehn Mann und haben die Motivwägen entworfen und gebaut. Im Gepäck hatten wir viele kommunalpolitische Themen. Als in Hockenheim das Gasthaus „Zum Löwen“ zumachte, hatten ein paar Vereine kein Sängerlokal. Also scherzten wir an Fasnacht: „In Ermangelung an Räumen proben wir heut’ unter Bäumen“. Auch politisch waren unsere Sprüche zum Kalten Krieg, wie: „Gorbi, Genscher und auch Kohl zerstören Lenins Staatssymbol“. Karneval und Gesang – das war für mich die Eintracht.

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Warum wurde der Fasnachtsbetrieb eingestellt?

Stohner: Zum Großteil wurde diese Entscheidung getroffen, weil wir immer älter werden. Man braucht ja auch ein Gelände, um einen solchen Wagen zu bauen – auch da gab es dann Probleme. Außerdem hatten wir die 40 Jahre voll (lacht).

100 Jahre Eintracht – wie stimmt es Sie, Teil einer solchen Geschichte zu sein?

Stohner: Ich bin sehr froh, vor allem deshalb, weil wir es mit dem Verein noch so lange geschafft haben. Sehr viele Gesangsvereine leiden unter der Altersstruktur. Es gibt auch schon einzelne Vereine, die gar nicht mehr singen oder auftreten können. Bei uns ist das Alter auch ein großes Problem – ich bin mit meinen 65 Jahren der jüngste Sänger, alle weiteren Mitglieder sind wesentlich älter. Junge Sänger kommen nicht mehr nach. Der Nachwuchs engagiert sich eher in Pop- oder Gospelchören, das kann ich auch verstehen. Trotzdem ist es schade. Früher war eben alles ortsspezifisch, heute ist die Auswahl größer und leichter zu überblicken.

Wie wird es also weitergehen mit dem Jubilar MGV Eintracht?

Stohner: Im Moment haben wir eine Kooperation mit dem Sängerbund Liederkranz aus Oftersheim, die uns auch stark unterstützen. Alle sind bei uns eingetreten. So haben wir jetzt, im Jubiläumsjahr, einen Stand von 25 aktiven Sängern. Wie es aber auf lange Sicht weitergeht, steht in den Sternen. Alleine nach Weihnachten haben wir drei Sänger verloren, zwei davon sind gestorben – damit müssen wir leider rechnen. Junge Sänger zu bekommen, betrachte ich in der aktuellen Zeit als sehr schwierig. Die Zukunft des Vereins ist im Moment nicht gesichert.

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Dabei gab es doch mal einen Jugendchor beim MGV.

Stohner: Wir haben am 17. September 1976 einen Jugendchor gegründet, die „Eintracht-Spatzen.“ Damals war das ein gemischter Jugendchor, dort sangen also Jungen und Mädchen. Gelungen war die Gründung vor allem durch unseren sehr engagierten Dirigenten Peter Wirth, der den Chor damals geleitet hat. Fünf Jahre später mussten wir den Chor allerdings wieder abschaffen, weil niemand mehr in die Probe kam. Heute sind aus der „Spatzen-Zeit“ nur noch zwei Mitglieder übrig.

Ist die unsichere Zukunft ein großes Thema im Verein?

Stohner: Darüber sprechen wir oft, ja. Aber durch unsere Kooperation mit den Sängern aus Oftersheim ist Hoffnung da. Unser jetziger Dirigent Fritz Kappenstein wird auch weitermachen, das ist sehr erfreulich. Damit haben wir eine Basis, auf die wir aufbauen können.

Welche Veranstaltungen feiern Sie im Jubiläumsjahr trotz Mitgliedermangels?

Stohner: An diesem Sonntag führen wir unsere Ehrungsmatinee durch in der Zehntscheune. Am 27. April gibt es unseren Festabend in der Hockenheimer Stadthalle. Dafür haben wir befreundete Vereine aus Hockenheim und den Sängerbund Oftersheim zu einem Freundschaftssingen eingeladen. Für das Spätjahr ist vielleicht ein kleines Kirchenkonzert geplant oder das Gestalten eines Gottesdienstes.

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