Mannheim. Herr Roth, Herr Jung, die Gründung der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen ist vor 50 Jahren „nicht ganz konfliktfrei“ verlaufen, wie es auf der Homepage ein wenig euphemistisch heißt. Sie, Herr Roth, waren damals am Putsch der Assistenten an der Universität Mannheim allerdings maßgeblich beteiligt.
Dieter Roth: Naja, ein Putsch war das nicht. Es stimmt aber schon, dass wir Assistenten uns von Rudolf Wildenmann emanzipieren wollten, der Professor an der Universität Mannheim war. Sein Team führte seit 1965 Hochrechnungen und Prognosen für das ZDF bei Bundestagswahlen durch. Wir Assistenten waren mit den Rahmenbedingungen aber nicht mehr zufrieden, weshalb es dann 1974 zur Gründung der Forschungsgruppe Wahlen kam. Ohne Rudolf Wildenmann.
Matthias Jung: Als Einordnungshilfe muss man wissen, dass die Forschungsgruppe Wahlen damals als universitäre Ausgründung eines der ersten Spin-off-Unternehmen war. Zu einer Zeit, als diesen Begriff kaum jemand kannte. Wolfgang Gibowski und Dieter Roth wurden zu den prominenten Gesichtern der Forschungsgruppe. Manfred Berger blieb dagegen eher im Hintergrund.
Warum hat es dann bis 1977 gedauert, bis das erste Politbarometer über den Sender ging?
Jung: Das Primäre waren ja die Wahlforschung und die Hochrechnungen. In der damaligen Zeit gab es noch keine regelmäßigen Umfragen, die dann auch noch veröffentlicht wurden. Das war ja auch die Kritik der Politikwissenschaft, dass Umfragen damals geheimes Herrschaftswissen geliefert haben.
Roth: Die Technik war am Anfang noch nicht so weit. Das musste sich erst einmal einspielen. Am Anfang haben wir die Daten eineinhalb Woche lang erhoben und dann in drei Tagen ausgewertet. Dann konnten wir auf den Fernsehschirm gehen. Wir waren methodisch gut ausgebildet. Wir waren in den USA und in Großbritannien und wussten, wo die empirische Wissenschaft stand.
Jung: Die Methodik hat von Anfang an gut funktioniert, aber mit der Akzeptanz hat es noch gedauert. Die ersten Politbarometer hat das ZDF im Spätprogramm versteckt.
Wir waren von Anfang an besser als die ARD, nur ist das am Anfang niemandem aufgefallen
Stimmt es, dass das ZDF mit dem Politbarometer auch einen Imagewechsel vollziehen wollte?
Jung: Das ZDF war im Vergleich zur ARD mehr auf Unterhaltung ausgerichtet, es wollte dann sein Profil als Nachrichten- und Politiksender schärfen. Da hat das Politbarometer gut hineingepasst.
Roth: Der damalige Chefredakteur meinte damals zu uns: Bisher ist die ARD der Informationssender Nummer eins. Mit eurer Hilfe werden wird die ablösen. Dafür habt ihr vier Jahre Zeit. Und das haben wir relativ schnell und gut geschafft.
Was unterscheidet denn die Forschungsgruppe von den anderen Meinungsforschungsinstituten?
Jung: Wir sind das einzige Institut, das spezialisiert ist auf den Bereich Wahlforschung und politische Meinungsforschung. Daran hat sich in den vergangenen 50 Jahren nichts geändert. Bei den meisten anderen Instituten ist die kommerzielle Marktforschung der größte Bereich, deshalb sind wir verglichen mit denen extrem klein. Wir selbst arbeiten exklusiv für das ZDF und werden von dem Sender auch finanziert.
Beim Betrag, den die Forschungsgruppe von unserer Redaktion fürs Politbarometer bekommt . . .
Jung: . . . handelt es sich eher um Peanuts. Wir rechnen beim ZDF übrigens nach den Ist-Kosten ab, was von den bewilligten Geldern nicht verbraucht wird, geht wieder an den Sender zurück. Wir sind also nicht gewinnorientiert bei unserer Arbeit.
Wie viel Geld bekommen Sie denn im Jahr? Drei Millionen Euro?
Roth: Das hängt davon ab, wie viel Wahlen es in einem Jahr gibt. 2024 wird mit der Europawahl und den drei Landtagswahlen eher teurer.
Wie unterscheidet sich das Politbarometer von den Umfragen der Konkurrenz?
Jung: Die anderen Institute machen oft Umfragen, bei denen viele Themen abgehandelt werden. Politische Fragen spielen eher eine Nebenrolle. Das Politbarometer beschäftigt sich nur mit der politischen Situation und stellt Langzeit-Fragen. Der allergrößte Unterschied, und das ist der dickste finanzielle Brocken, ist die Wahlforschung. Also alles, was mit dem Wahlabend zusammenhängt. Für diese verlässlichen Daten ist ein recht hoher Kostenaufwand nötig.
Schneiden Sie besser als die Konkurrenz ab?
Roth: Wir waren von Anfang an besser als die ARD, nur ist das am Anfang niemandem aufgefallen, weil die ARD diesen Nimbus hatte. Einen solchen Nimbus zu zerstören, ist nicht so einfach. Durch unsere Zusammenarbeit mit der Universität Mannheim gab es eine wissenschaftliche Kontrolle unserer Methodik. Das hat sich in der Qualität niedergeschlagen. Das hatten die anderen Institute nicht.
Jung: Im Prinzip haben wir am Wahlabend ja nur noch einen Konkurrenten, nämlich Infratest dimap. Durch diese Konkurrenzsituation und die weitere Optimierung hat sich das Ganze nach oben geschaukelt, so dass wir in Deutschland ein Niveau erreicht haben, das es sonst nirgendwo auf der Welt so gibt.
Roth: Da ist wenig Luft nach oben.
Jung: Deshalb liegt dann halt mal der eine und dann der andere vorn. Wir arbeiten ja in einem Geschäft, in dem es um Wahrscheinlichkeiten geht. Da gibt es immer Fehlerbereiche. Es kann deshalb gar nicht sein, dass der eine immer besser und der andere immer schlechter ist.
Roth: Die Forschungsgruppe liefert drei verschiedene Arten von Daten: Die Daten aus den Umfragen vor dem Wahltag sind relativ weich. Die Befragung am Wahltag liefert schon sehr viel härtere Daten. Und die dritte sind die Hochrechnungen nach 18 Uhr. Die sind natürlich besonders präzise.
Seit 2013 veröffentlicht die Forschungsgruppe am Donnerstagabend eine aktuelle Umfrage.
Jung: Das ist der größte Fortschritt, den wir in den vergangenen Jahren erzielt haben. Es gab da ja in den Gremien des ZDF große Widerstände, die ausgeräumt werden mussten.
Runder Geburtstag für die Forschungsgruppe Wahlen
- Die Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen wurde am 14. Januar 1974 gegründet. Am Mittwoch feiert das Institut im Mannheimer Schloss seinen 50. Geburtstag. Das erste Politbarometer wurde 1977 im ZDF veröffentlicht.
- Zu den Gründungsmitgliedern zählen die drei Vorstände Manfred Berger, Wolfgang Gibowski und Dieter Roth. 1991 verließ Gibowski die Forschungsgruppe. Matthias Jung rückte nach. Roth und Berger verließen 2003 bzw. 2005 den Vorstand. Diesen komplettieren Yvonne Schroth und Andrea Wolf.
Die allgemeine Kritik lautete ja: Die Forschungsgruppe betreibt mit der Veröffentlichung der letzten Umfrage drei Tage vor der Wahl Wählerbeeinflussung.
Jung: Der entscheidende Punkt in unserer Argumentation war aber: Wenn ich im Besitz von Zahlen bin, die zum Beispiel einen Regierungswechsel nahelegen, dann wäre die Geheimhaltung dieser Daten ja noch eine größere Manipulation des Wählerwillens als deren Veröffentlichung.
Ihnen ging es aber um etwas anderes: Sie wollten nach dem Wahltag nicht als die Deppen der Nation dastehen, weil sie mit ihrer alten Umfrage von der Vorwoche so daneben lagen.
Jung: Eben. 2005 habe ich mich fürchterlich aufgeregt, dass wir diese Veränderung in den Daten in der Woche vor der Bundestagswahl nicht veröffentlichen durften.
Kanzler Gerhard Schröder holte nach einem riesigen Rückstand dramatisch auf, fast hätte es für ihn sogar noch gereicht.
Jung: Wir mussten die Klappe halten. Und die Journalisten haben mit den veralteten Umfragen eine unrealistische Erwartungshaltung geschaffen, und dann bekamen wir bei der Pressekonferenz die Prügel für das alles ab.
Roth: Das war nicht das erste Mal. Das ist uns schon bei der Landtagswahl 1999 in Hessen passiert. Auch da hatten wir neuere Daten und wussten, dass Roland Koch von der CDU die Wahl gewinnen würde. Mit seiner Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft hatte er offenbar einen Nerv getroffen. Wir sind damals beim ZDF-Chefredakteur angetanzt und haben ihn bekniet. Keine Chance.
Die ARD hat sich dem ZDF nicht angeschlossen. Warum nicht?
Jung: Sie ist halt stur geblieben. Das ist dann oft so in einer Konkurrenzsituation. Wenn sich der eine bewegt und der andere nicht gleich dabei ist, dann wird es für ihn schwierig. Klar ist auf jeden Fall, dass wir mit der Umfrage am Donnerstag inzwischen viel näher am Wahlergebnis sind. Aber auch da ist es natürlich so: Der Datenerhebungszeitpunkt ist Mittwoch bis Donnerstag vor der Wahl. Es verbleiben also noch drei Tage, und je unentschlossener die Wähler sind, desto mehr kann sich da bis Sonntag 18 Uhr tun.
Es muss für Sie als Wahlforscher doch ein Graus sein, dass immer mehr Fraktionen im Bundestag sitzen. Vor 50 Jahren waren es mit der Union, der SPD und der FDP noch drei, inzwischen sind die Grünen, die Linke und die AfD hinzugekommen.
Jung: Ja, und es können ja noch mehr werden. Bündnis Sahra Wagenknecht oder die Freien Wähler. Die Parteienzersplitterung erschwert uns natürlich unseren Job. Aber viel schwieriger ist für uns die Veränderung der Parteibindung. Früher gab es kaum Wechselwähler.
Sie veröffentlichen im Politbarometer immer zwei Werte: die politische Stimmung und die Projektion. Was ist der Unterschied?
Jung: Bei den Stimmungswerten handelt es sich um die Rohdaten, bei der Projektion . . .
. . . also der Sonntagsfrage . . .
Jung: . . . gewichten wir die Ergebnisse nach bestimmten Erfahrungswerten wie politische Grundüberzeugungen, Intensität der Parteienbindung oder bekannten Dunkelziffern. Alle Institute machen das übrigens, nur sehen sie dort nicht die Rohdaten.
Kann es sein, dass die FDP bei Ihnen oft zu gut wegkommt?
Jung: Da ist meine Erfahrung eine andere, kaum eine Partei hat sich früher bei uns so beschwert wie die FDP. Ich kann mich noch daran erinnern, dass uns der frühere FDP-Generalsekretär Dirk Niebel . . .
. . . der mit der blöden Bundeswehrmütze . . .
Jung: . . . in die Gremien des ZDF einbestellen ließ, um sich über seine Werte zu beschweren. So etwas passiert heute nicht mehr.
Die Forschungsgruppe stuft sich als politisch neutral ein.
Jung: Wir werden natürlich nicht zu politischen Eunuchen, weil wir Sozialforschung betreiben.
Roth: Wir sind politische Menschen.
Jung: Aber wir müssen unser Geschäft professionell betreiben. Wenn ich jetzt zum Beispiel im Politbarometer sehe, dass CDU-Chef Friedrich Merz ein extrem schlechtes Ansehen in der Bevölkerung und ein bescheidenes in der CDU-Anhängerschaft hat, dann ist das ein empirischer Beleg und kein politisches Statement. Und natürlich ist es auch mein Job, dass ich datengestützt politische Feststellungen zu den politischen Akteuren treffe.
Roth: Es haben viele Politiker versucht, über das ZDF politischen Einfluss auf uns zu nehmen. Das hat zum Glück aber nicht geklappt.
Herr Jung, es hat aber auch Journalisten gegeben, die Sie als Angela Merkels Hausdemoskopen bezeichneten.
Jung: Ich kannte Frau Merkel schon lange, bevor sie ins Bundeskanzleramt eingezogen ist. Wir hatten über Jahrzehnte einen politischen Kontakt, vor allem über Studien, die wir damals für ihre Ministerien durchgeführt haben. Die Vorstellung ist aber naiv, dass es in dieser Liga Berater gibt, die dann einer Politikerin oder einem Politiker das Händchen halten. Wenn man in diesem Bereich jemanden länger kennt, kann man vielleicht mal als so eine Art Sparringpartner fungieren. Aber die Vorstellung, dass eine Angela Merkel oder ein Bundeskanzler Olaf Scholz machen, was ein Berater ihnen einflüstert, ist völlig unrealistisch. Wenn die nichts programmatisch oder konzeptionell drauf hätten, dann wären die niemals in solche Positionen gekommen. Angela Merkel hat schon als Jugendministerin die CDU zu einer Partei der Mitte machen wollen. Dafür brauchte sie mich nicht.
Friedrich Merz wirft ihr deshalb bis heute vor, sie habe die Werte der Partei verraten.
Jung: Blödsinn. Schauen Sie doch mal, wo die Union im Poltibarometer mit ihrem alten konservativen Kurs unter Merz steht. Bei 30 Prozent und das bei dem Zustand der Regierung. Politik muss auch auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagieren, sonst manövriert sie sich ins Abseits.
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/politik_artikel,-politik-warum-das-politbarometer-so-erfolgreich-ist-_arid,2172957.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/dossiers_dossier,-_dossierid,147.html