Ich nehme eine gedämpfte Stimmung bei meinem jüngsten Besuch in Sinzig wahr. Auf der einen Seite grünt und blüht es, die roten Tulpen und gelben Narzissen wirken wie hoffnungsfrohe Farbtupfen im Alltagsgrau. Und doch ist alles irgendwie traurig, gar angespannt.
Seit der Flutkatastrophe Mitte Juli 2021 ist in der Barbarossastadt nichts mehr wie es einmal war, so wie in allen betroffenen Gemeinden des Ahrtals in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen. Gemeinsam mit den Gemeinden unseres Einzugsgebietes hat die Redaktion eine Spendenaktion gestartet, an die mit diesem Artikel erinnert werden soll. Denn eines wird bei dem neuerlichen Besuch mehr als nur deutlich: Die von der Flut betroffenen Menschen brauchen weiter Hilfe! Die finanzielle Seite ist dabei nur ein Teil. Es geht um persönliche Ansprache und Unterstützung, auch noch ums Anpacken. Und es geht um die Seele.
„Wir sind doch schon längst abgemeldet“, ruft mir eine Frau älteren Semesters von ihrer Haustür zu, als ich sie frage, wie es ihr neun Monate nach der Flut geht. Ihr Haus stand bis zum zweiten Obergeschoss unter Wasser, dies ist an der vormals weiß getünchten Fassade noch gut zu erkennen. Durch das Fenster im Untergeschoss sind Handwerker auszumachen. Die Frau wirkt entkräftet, mag nicht plaudern. „An uns denkt jetzt keiner mehr“, sagt sie noch, bevor sie die Tür schließt. Ein Gefühl, das mir an diesem Tag mehrfach begegnen soll. Es bewegt sich zwischen Aufbruch und Resignation – mal überwiegt das eine, mal das andere. Kein Wunder: Pandemie, Hochwasser und dann auch noch ein Krieg mitten in Europa – was kann ein Mensch aushalten?
Von Mauern und Aufbruch
Das frage ich mich auch beim Treffen mit Andreas Geron, dem Bürgermeister von Sinzig. Da gibt es Anfeindungen von außen durch Veröffentlichungen, in denen die Reihenfolge der Helfenden direkt nach der Flut infrage gestellt wird, obwohl man doch froh sein müsste über jeden, der schnell handelte („Unsere Katastrophe ist kein Wettbewerb“). Dann wären da kommunalpolitische Mauern innerhalb des Stadtrats und von den großen bürokratischen Hürden im Land möchte ich gar nicht erst anfangen. Dabei will Geron nur nach vorne blicken. Die vom Hochwasser betroffenen Stadtteile und die Infrastruktur sollen freilich so schnell wie möglich aufgebaut werden und er möchte gern mit neuen Projekten etwa rund um Elektromobilität und Umweltschutz (Mietleihlastenräder und Car-sharing für Vereine) Zukunftsperspektiven schaffen. Und dann wäre da noch die gemeinsame Bewerbung mit Bad Neuenahr-Ahrweiler für die Landesgartenschau 2030. Dabei könnte es um Themen wie Hochwasservorsorge, Ökologie und nachhaltigen Tourismus gehen. Eine Landesgartenschau wäre gleichzeitig ein Zeichen der Hoffnung und – bestenfalls – ein Schlusspunkt unter den Wiederaufbau im Ahrtal.
Apropos Aufbau: In den Straßen nahe der Ahr in Sinzig sind viele Kleintransporter auszumachen. Es wird gehämmert, gebohrt, ge-stemmt, gesägt. Innenausbauer, Elektriker, Schreiner – Fahrzeuge von Handwerkern stehen vor den Häusern. Ich kehre in die Eichendorffstraße zurück. Ein Bagger reißt dort gerade ein Haus ab, in unmittelbarer Nachbarschaft von Karl-Heinz Krappitz. Ihn und dessen Tante hatte ich schon bei einer meiner vorausgegangen Touren getroffen. Die Häuser von beiden sind durch das Hochwasser schwer beschädigt worden. Die Sanierung geht nur schleppend voran. „Es fehlt an Handwerkern und an Material“, macht Karl-Heinz Krappitz deutlich, der viel in Eigenleistung stemmt, aber alles geht eben auch nicht, gerade im Bereich Elektrik. Er erzählt von Lothar, ein Trockenbauer aus Isny, der über die Aktion „Handwerker helfen“ kam und in seiner Freizeit anpackte. „Die WC-Anlage habe ich von unseren Nachbarn. Die mussten ja ihr neues Fertighaus nach der Flut komplett wieder abreißen“, zeigt er die Gästetoilette. Ein Radiatorheizkörper läuft in der Küche, um das Mauerwerk zu trocknen. Die Holzdecken hat Karl-Heinz Krappitz rausgerissen. Auch das Haus seiner 82-jährigen Tante Renate Pilz nebenan gleicht einer Großbaustelle. Trotz allem verliert Karl-Heinz Krappitz nicht die Zuversicht, auch wenn er klar sagt, dass sich die Sanierung noch Monate hinzieht. „Ändern kann ich ja nichts“, kehrt er die rheinische Gelassenheit nach außen.
Gelassenheit – das fällt verständlicherweise nicht jedem leicht in einer solchen Situation. Vor dem Haus der Lebenshilfe erinnern Bilder und Kerzen an die zwölf Verstorbenen – ein beklemmendes Gefühl. Die Bewohner leben zu der Zeit in einem ehemaligen Hotel in Remagen. Wo sie künftig unterkommen, ist nicht vollends geklärt. Die Lebenshilfe, so heißt es, will den Standort halten, aber eben nur noch für Büroräume.
„Manchmal muss man einfach weitermachen“, lese ich auf einem Werkstatt-Tor, dessen zerstörte Glasfenster mit Spanplatten ausgebessert worden sind. Wie wahr. Und das Beste aus dem Moment machen – das gilt wohl auch für jene Menschen in Sinzig, die vorübergehend in Minifertighäusern (Tiny Häuser) untergekommen sind. Es ist ein Stück Privatsphäre auf kleinstem Raum, aber es sind eigene vier Wände. Die in Stadtkernnähe waren schon an Weihnachten bewohnt, kleine Tannenbäume stehen hier und da noch neben Kinderwagen vor der Eingangstür. Die Tiny Häuser in Bad Bodendorf wurden jüngst bezogen, allesamt finanziert über die Aktion „Deutschland hilft“ (wir berichteten). Ein schönes Stück Hoffnung, genauso wie die neue temporäre Brücke für den zerstörten Christinensteg. Besonders für Kinder erleichtert diese den Weg zum Schulzentrum.
Auch in Sachen aktiver Hochwasserschutz tut sich einiges an den Nebenarmen der Ahr. Starre Betonwände sind hier Backsteinbebauungen gewichen. Der Ahr-Radweg hat schon zum Teil neuen Belag erhalten, der gerade von schwerem Baugerät befestigt wird.
Helfer gegen die Bürokratie
Markus Schnapka (70) sitzt in einem Container vor seinem Computer. Der Bonner war früher Sozialdezernet bei der Stadt Sinzig und wollte sich nach der Flut helfend einbringen. Mit 14 anderen Ehrenamtlichen unterstützt er Flutopfer bei der Gelderbeantragung über die Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB). Bis zu acht Ratsuchende kommen nach wie vor in Spitzenzeiten, um sich von den Profis bei der Bürokratie unterstützen zu lassen – denn das satte 850 Seiten umfassende Walzwerk der ISB überfordert Laien durchaus, weiß Schnapka.
Für die Klienten gibt es einen Zweitrechner, auf dem sie selbst agieren können. IT-Fachmann Michael Groß (58) sorgt dafür, dass die Technik funktioniert. Neben dem Container gibt es ein Zelt, in dem sich Flutopfer bei einer Tasse Kaffee austauschen können. Hier bekommt man viele Schicksale mit. Etwa von einem Mann, der bis auf seinen Schlafanzug, den er in der Flutnacht getragen hat, alles verlor. Und er – Schuhgröße 48 – war mehr als dankbar, als ihn ein Ehrenamtlicher schnappte, um mit ihm in einem Spezialgeschäft Schuhe in seiner Größe zu kaufen.
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Tipp für eine andere Möglichkeit, dem Ahrtal zu helfen: Wandern für den Wiederaufbau
- Die vier Verkehrsvereine aus Altenahr, Mayschoß, Rech und Dernau laden ab 23. April sowie an allen Maiwochenenden zum gemeinsamen „Wandern für den Wiederaufbau“ auf den Rotweinwanderweg ein. An den insgesamt sechs, jeweils wechselnden Motto-Wochenenden präsentieren sich Weingüter und Gastronomiebetriebe und sorgen entlang des Höhenwanderweges für ein kulinarisches Highlight. Die zirka 15 Kilometer lange Strecke entlang der Rebhänge zwischen Marienthal und Altenahr gestaltet sich kurzweilig, denn sie wird immer wieder von einem der über 20 Wein- und Gastronomieständen unterbrochen.
- Als Andenken und Zeichen der Unterstützung werden „SolidAHRitäts-Armbänder“ sowie „SolidAHRitäts-Weingläser“ verkauft. Der Erlös der verkauften Gläser und Armbänder kommt dem touristischen Wiederaufbau der vier Weinbaugemeinden zugute.
- Parkmöglichkeit: Zentralparkplatz Grafschaft Beller (direkt an A 61); Parkplatz Are-Gymnasium, Joseph-von-Fraunhofer-Straße 0, 53501 Grafschaft. Ein Shuttle-Service verkehrt zwischen 9.30 und 19 Uhr.
- Hier stehen Wanderkarten und weitere Infos bereit.
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