Oftersheim. Gerade erst ist mit dem 1. Mai einmal mehr der traditionelle Tag des Arbeitskampfes vorüber. Traditionell also eine Zeit, in der sich in vielen Städten auf der ganzen Welt Menschen auf die Straße begeben, um für fairere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu protestieren, oftmals unter Federführung von Gewerkschaften. Bekanntermaßen ist das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern häufig kein einfaches und Einigungen über Bezahlungen oftmals nur schwer zu erreichen.
Der vergleichsweise kleine Arbeitgeber- und Berufsverband Private Pflege (ABVP) hat sich mit der mit der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD) mit Starttermin 1. September 2022 auf einen Tarifvertrag geeinigt. Der Weg dorthin war naturgemäß nicht einfach, doch danach folgten zusätzliche Verhandlungen mit den Kassen in Baden-Württemberg – die jetzt abgeschlossen sind. Carmen Kurz-Ketterer, Vorstandsvorsitzende im ABVP und Gemeinderätin in Oftersheim (kleines Bild), berichtet im Interview davon, welche Herausforderungen die vergangenen Monate für alle Beteiligten mit sich gebracht haben.
Wie würden Sie selbst die Geschehnisse zusammenfassen, die zum Abschluss des Tarifvertrages und anschließend bis zur Refinanzierung geführt haben?
Carmen Kurz-Ketterer: Die Corona-Pandemie hat sehr deutlich gezeigt, wie wichtig die Pflege für das deutsche Gesundheitssystem ist. Wir waren mit Begriffen wie „systemrelevant“ konfrontiert. Über diese Begriffe haben wir uns alle sehr lange keine Gedanken gemacht. Das Positive an der Pandemie war, dass die Pflegebranche in den Fokus der Politik geriet und Deutschland festgestellt hat, dass wir die Pfleger verlieren, wenn wir sie mit einem Klatschen bezahlen. Was nicht ganz richtig war: Nicht alle in der Pflege waren unterbezahlt. Es gab bereits Arbeitgeber, die ihren Mitarbeitern ein faires Gehalt bezahlten. Herr Spahn, der Gesundheitsminister a.D., hat den Vorschlag unterbreitet, jede Pflegekraft mit 4000 Euro zu bezahlen. In der Folge hat er eine Pflicht zur tariflichen Bezahlung in der Pflegereform 2022 verabschiedet. Wir, der Arbeitgeber- und Berufsverband Private Pflege, haben diese Diskussion als Chance gesehen: für unsere Mitglieder und für die Pflege im Gesamten. Mit der GÖD fanden wir einen Verhandlungspartner, der mit uns auf Augenhöhe und mit viel Verständnis gesprochen hat. Der Tarifvertrag wurde verhandelt und unterschrieben. Neben einer fairen Gehaltsstruktur erhalten die Mitarbeiter auch weitere Vergütungen wie Urlaub, Versicherungen und Boni für Ausbildungen sowie Positionen.
Nach Abschluss des Tarifvertrages stand dem Neustart der Pflege nur noch eines im Weg: die Refinanzierung der Löhne durch die Kranken- und Pflegekassen. In der Regel gibt es Einzel- oder Kollektivverhandlungen über die Refinanzierung von Pflegeleistungen. Einen Teil der Pflegeleistungen trägt die Kasse gänzlich oder die Patienten erhalten Zuzahlung. Der Pflegedienst rechnet direkt mit der jeweiligen Kasse ab. Die GÖD und der ABVP haben daher eine Vereinbarung, die besagt, dass die Gültigkeit des Tarifvertrags von der Refinanzierung der Kassen abhängt. Der Tarifvertrag sollte laut der Gesundheitsreform ab dem 1. September 2022 gezahlt werden. Einige Bundesländer erhielten die Refinanzierung auch gleich im September vergangenen Jahres. Thüringen und Sachsen haben schnell zugestimmt und die gewünschte Erhöhung Hand in Hand durchgesetzt. Danach zogen viele Bundesländer nach. In einigen Bundesländern wie Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen, war es schwieriger. Baden-Württemberg hat die Leistungen nun im März angepasst. Manche Bundesländer kämpfen noch immer für die Anerkennung der Pflegeleistung und müssen sogar in Schiedsverfahren gehen. Wir müssen alle erkennen, dass der Tarifvertrag ein Zeichen für unsere Zukunft ist. Der Pflegeberuf muss anerkannt und attraktiv sein, damit wir später im Alter eine Sicherheit haben.
War die Phase bis zur Refinanzierung womöglich noch schwieriger als sich vorher beim Tarifvertrag zu einigen?
Kurz-Ketterer: Ja. Die Verhandlungen waren nicht einfach. Und leider auch nicht immer auf Augenhöhe. Wobei dies auch zwischen den Kassen unterschiedlich war. Man muss hervorheben, dass die Verhandlungen mit der AOK sehr angenehm und auf Augenhöhe stattfanden – zumindest nach anfänglichen Schwierigkeiten. Diese Kasse war auch eine der ersten, die sich auf die höheren Entgelte eingelassen haben. Das war im Dezember 2022. Wir haben in einem Team von neun Diensten verhandelt. Was wir uns da alles angehört haben, möchte man nicht glauben. „Wir sind doch größenwahnsinnig, verrückt, Träumer.“ Viele Kassen haben uns als Pflege einfach nicht ernst genommen. Wir wurden auf die lange Bank geschoben, in der Hoffnung, dass wir einen Rückzieher machen, wenn die Kassen es nur lange genug aussitzen.
Man muss sich vorstellen: In Baden-Württemberg muss ein Pflegedienst sechs Vergütungen verhandeln. Von den Krankenkassen über die Pflegeversicherung, Knappschaft bis hin zum Landratsamt. Alle wollen hier mitreden. Gemeinsam mit acht Kollegen habe ich mich auf den Weg gemacht. Viele Mails gingen hin und her. Verhandlungen mit bis zu zehn Verhandlungsgegnern in einer Runde. Anfänglich wurden ungefähr 2,3 Prozent Erhöhung angeboten. Gefordert waren über 40 Prozent. Die restlichen Kassen kamen zum Teil erst zum März zum Ergebnis. Klar ist, dass leider die Sachleistungsbeträge nicht ausreichen, um die Steigerung abzufangen. Leider stärkt die Politik eher die stationären Einrichtungen. Allerdings muss betont werden, dass wir ja zu einer tariflichen Bezahlung verpflichtet sind. Wir hätten keinen eigenen Tarifvertrag gestalten müssen und es wäre möglich gewesen, uns einem bestehenden Vertrag anzulehnen. Die Unterschiede zwischen stationären und ambulanten Bedürfnissen sind jedoch zu groß. Das hätte für uns nicht gepasst.
Für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2024 stehen erneute Verhandlungen an – was wünschen Sie sich für die Mitarbeiter?
Kurz-Ketterer: Ich bin dankbar, dass mein Team hinter mir steht und mir auch die Möglichkeit gibt, dieses Ehrenamt auszuführen. Klar werden wir wieder auffordern und eine Steigerung erzielen müssen. Im Herbst wird bestimmt die Gewerkschaft eine Verhandlung wünschen. Für meine Mitarbeiter wünsche ich mir Anerkennung. Nicht kurzzeitig wie in der Pandemie, sondern dauerhaft. Sie leisten uneigennützig jeden Tag fast Unmenschliches. Und eine Bezahlung, von der man nicht nur leben kann, sondern sich etwas leisten kann, haben sie mehr als verdient. Sie bieten Menschen Sicherheit. Nun ist es an der Gesellschaft auch ihnen Sicherheit zu geben. Die Pflege ist wesentlich mehr als nur Gesäß abwischen. Pflege bedeutet ganzheitliche Sicht. Vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, damit es keine oder eben nur abgeschwächte Verschlechterung gibt. Die Pflege ist kein „Nine-to-five-Job“. Man nimmt seine Arbeit auch oft mit nach Hause. Man ist sieben Tage die Woche im Einsatz und manchmal auch nachts. Pflegekräfte sind besondere Menschen. Klatschen war gestern, heute ist Zeit für Anerkennung und entsprechende Entlohnung. Dies alles und dann noch weniger Bürokratie. Dann wäre Pflege nicht nur Traumberuf, sondern etwas Besonderes.
In der Branche gab es laut Ihnen einen Aufschrei, es war von Tarifzwang die Rede. Woher kam diese Kritik und ist sie mittlerweile Vergangenheit?
Kurz-Ketterer: Der Tarifzwang ist aus meiner Sicht etwas Gutes. Jetzt mussten die Kassen die Löhne akzeptieren, die eben auch gezahlt wurden. Die benannten „schwarzen Schafe“, die eben keine fairen Löhne gezahlt haben, konnten dies unter Umständen nicht, weil die Kasse die höheren Löhne nicht akzeptiert hat. Durch den Tarifzwang in der Reform 2021 wurden auch die Kassen in die Pflicht genommen. Wenn man sich aber umschaut, ist es leider so, dass es immer noch Tarife gibt, die nicht mal den Mindestlohn der Pflege umgesetzt haben. Man verliert durch den Tarif die Möglichkeit, individuelle Verträge mit den Mitarbeitern abzuschließen. Dies scheint ein Problem zu sein bei anderen Trägern. Viele Vergütungen reichen nicht aus, den Lohn entsprechend zu zahlen. Teure Pflegefachkräfte waren nicht überall gewünscht. Vielerorts hat man sich an der Pflege gesund gespart, leider.
Sie schreiben, dass der Tarifvertrag ein Schritt hin zur Anerkennung der ambulanten Pflege ist. Woran macht sich die fehlende Anerkennung – auch im Vergleich mit anderen Berufsfeldern – Ihrer Meinung nach bemerkbar?
Kurz-Ketterer: Der Ausspruch „Pflegen kann jeder“. Das muss ich korrigieren: Den Waschlappen schwingen kann jeder, Pflege ist anspruchsvoll und muss gelernt sein. Hier gehört eben mehr dazu. Eigenschaften wie Empathie, Voraussicht, Anatomie- und Hygienewissen, medizinische Kenntnisse. Vor Jahren hat man angefangen, Leistungen von jedermann erbringen zu lassen. Dies führt dazu, dass jeder billig versorgt werden kann. Billig bedeutet hier aber auch billig. Deshalb schritt die Politik ein und Pflegefachkräfte wurden zu Schreibtischtätern verdammt. Sie durften Pflege planen, dokumentieren und kontrollieren. Am Bett standen oftmals ungelernte Kräfte ohne Anleitung. Menschen, die ihr Bestes gegeben haben. Viele wussten und wissen nicht um die Verantwortung, die sie tragen. Fehler passieren, vermehrt da, wo das Fachwissen fehlt. Nicht falsch verstehen. Ich finde es super, dass es diese Menschen gibt. Diese Menschen brauchen wir auch in der Versorgung, aber bitte nicht in der Pflege. Hilfskräfte wurden zum Teil so gut bezahlt, dass es sich nicht mehr lohnte, eine Ausbildung zu absolvieren.
Es hat immer mehr gelernte Pflegefachkräfte in andere Bereiche gezogen. Da, wo man eben nicht morgens um 6 Uhr anfängt oder bis in den späten Abend arbeitet. Einzelhandel und Co. zahlen auch mehr als die 12 Euro Mindestlohn und da hat man ein leichteres Leben. An Wochenenden und Feiertagen sind die Kranken und älteren Menschen auch zu versorgen. Rufbereitschaft 24 Stunden am Tag muss abgedeckt werden. Die Reise ging zu immer mehr Verantwortung, verteilt auf immer weniger Pflegekräfte. Der Tarifvertrag wirkt dieser Reise entgegen und wir kehren gerade um. Stellenschlüssel gibt es in der ambulanten Pflege nicht. Hier muss eine Pflegefachkraft bei Wind und Wetter raus. Egal, ob es regnet oder schneit. Selbst bei Gewitter oder im Sommer bei 40 Grad. Es wird die Tour gefahren. Das sieht man nicht. Darüber redet man auch nicht – bisher. Wir haben dafür eine Zulage mit der Gewerkschaft vereinbart. Ein kleines bisschen Anerkennung der Leistung. Über andere Berufe zu reden, steht mir nicht zu. Ich bin Pflegefachraft und darüber könnte ich Bücher schreiben. Ich bin stolze Pflegefachkraft und stolze Chefin von 36 Mitarbeitern. Sechs Auszubildende lernen bei uns den Beruf der Pflegefachkraft. Sie bekommen bei uns gezeigt, was wir uns später von ihnen wünschen. Gute Pflege mit Rückgrat und Verstand. Pflege ist ein schöner Beruf.
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