Im Interview

50 Jahre Diakonie im Rhein-Neckar-Kreis: „Es sind viel mehr Leistungsempfänger“

Das Diakonische Werk im Rhein-Neckar-Kreis feiert sein 50-jähriges Bestehen. Wie sich die Arbeit durch gesellschaftliche Veränderungen gewandelt hat und warum die Armut immer weiter um sich greift, darüber spricht Nadine Bikowski.

Von 
Nicolai Lehnort
Lesedauer: 
Nadine Bikowski, muss immer mehr Menschen aus der Mittelschicht beraten. „Das Geld reicht nicht für alltägliche Dinge“, sagt die Leiterin des Diakonischen Werks Südliche Kurpfalz. © Nicolai Lehnort

Schwetzingen. Beinahe jede sechste Person in Deutschland lebt in Armut. 14,2 Millionen Menschen müssen damit als einkommensarm bezeichnet werden. Das geht aus den jüngsten Zahlen des Armutsberichts des paritätischen Wohlfahrtsverbands für das Jahr 2022 hervor. Fast zwei Drittel der erwachsenen Armen sind entweder berufstätig, in Rente oder Pension. Ein Fünftel der in Armut lebenden Menschen sind Kinder.

Beratende, aber auch finanzielle Hilfe, erhalten die Betroffenen bei der Diakonie, dem sozialen Dienst der evangelischen Kirchen. Das Diakonische Werk im Rhein-Neckar-Kreis feiert in diesem Jahr sein 50-jähriges Bestehen. Wie sich die Arbeit durch gesellschaftliche Veränderungen gewandelt hat und warum die Armut immer weiter um sich greift, darüber spricht Nadine Bikowski, Bezirksleiterin des Diakonischen Werks im Kirchenbezirk Südliche Kurpfalz. Außerdem berichtet sie von Problemen bei der Finanzierung und verrät, was beim Jubiläumsgottesdienst in Schwetzingen geplant ist.

Wir lassen unsere Mitmenschen nicht allein, sondern schenken ihnen Nächstenliebe. Das ist unser Leitbild. Dafür stehen wir.
Nadine Bikowski über die Arbeit der Diakonie

Was zeichnet die Arbeit der Diakonie aus?

Nadine Bikowski: Das Motto für den Jubiläumsgottesdienst ist „Raum geben“. Das beschreibt unsere Arbeit ganz gut. Wir wollen den Menschen Raum geben für ihre Konflikte und Probleme und ihnen Zeit schenken. Wir hören ihnen zu. Es gibt immer weniger Anlaufstellen, bei denen das möglich ist. Im besten Fall erarbeiten wir dann gemeinsam Lösungen. Wir lassen unsere Mitmenschen nicht allein, sondern schenken ihnen Nächstenliebe. Das ist unser Leitbild. Dafür stehen wir.

Inwiefern hat sich die Arbeit als Sozialarbeiterin und der Diakonie in den letzten Jahren verändert?

Bikowski: Es sind mehr Leute, die Leistungen in Anspruch nehmen müssen, obwohl einer der Lebenspartner arbeiten geht. Das Geld reicht diesen Bedarfsgemeinschaften nicht für Miete, Essen, Kleidung, alltägliche Dinge. Nach meinem subjektiven Empfinden sind es viel mehr Leistungsempfänger als vor 10 bis 15 Jahren. Um dem Rechnung zu tragen, haben wir einen unserer Fonds, aus dem die Beihilfen ausgezahlt werden, in „Sozialfonds - Armut bekämpfen“ umbenannt. Wir selbst haben seit der Flüchtlingskrise 2015 mehr Personal als früher. Durch die Integrationsmanager, die in den Gemeinden sitzen, hat sich unser Team vergrößert. Wir haben durch die bei den Förderprogrammen befristeten Verträge aber mit einer hohen Fluktuation zu kämpfen.

Mehr zum Thema

Gesundheit

Sechs Tipps gegen Weltschmerz aus Plankstadt und Eppelheim

Veröffentlicht
Von
Linda Saxena
Mehr erfahren
Ruhestand

Abschied im Kirchenbezirk Südliche Kurpfalz: Dekanin Steinebrunner auf neuen Pfaden

Veröffentlicht
Von
Elke Piechatzek
Mehr erfahren
Kolpingfamilie

Sammelaktion in Brühl: 1000 Paar Schuhe für den guten Zweck

Veröffentlicht
Von
Ralf Strauch
Mehr erfahren

Die Diakonie richtet ihre Hilfe immer nach den gesellschaftlichen Anforderungen. Welche sind das in der heutigen Zeit?

Bikowski: Schwangerschafts- und Schwangerschaftskonfliktberatung, letzteres im Fall von ungewollten Schwangerschaften, sind Themen, die immer wellenförmig auftreten. Kinder bekommen ist in fast jeder Beratung ein Thema, weil die unheimlich viel Geld kosten durch Kleidung und Essen. Manchen Müttern muss erklärt werden, wie Kinder eigentlich gestillt werden oder wie man sie wickelt. Das klingt für Außenstehende verrückt, aber das ist die Realität. Um Elternzeit und -geld sowie Beratung bei Trennung und Scheidung geht es wegen der finanziellen Unsicherheit auch häufig. Oft kommen Klienten aber zuerst mit einem einzigen Problem und im Lauf der Beratung kommen immer mehr ans Licht. Die Fälle werden immer komplexer. Behördliche Anträge sind noch einfach, aber da kommen meistens weitere Probleme dazu, die von der gestorbenen Mutter bis zur erneut schwangeren Frau reichen.

Laut Armutsbericht des paritätischen Wohlfahrtsverbandes steigt die Armut in Deutschland seit Jahren und kommt immer öfter auch in der Mittelschicht an. Das sind Klienten, die Sie früher nicht hatten. Wo sehen Sie die Ursachen dafür?

Bikowski: Ich glaube, dass es an den enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten liegt. Wir haben viele Klienten mit hohen Energiekosten. Geben die Vermieter die gestiegenen Kosten in Form erhöhter Mieten weiter, geht das nicht über mehrere Monate gut. Wohnen ist ohnehin ein ganz schlimmes Thema. Im Sinne der Tabelle des Jobcenters für „angemessenen Wohnraum“, die regelt wie viel die Miete wo kosten darf, gibt es im Rhein-Neckar-Kreis keinen angemessenen Wohnraum. Der Wohnraum ist sehr teuer und sehr rar. Durch den Ukrainekrieg hat sich die Lage nicht gerade verbessert. Immer mehr Leute wissen außerdem nicht, welche Behörde wofür zuständig ist.

Jubiläumsgottesdienst

  • Der Jubiläumsgottesdienst des Diakonischen Werks findet am Sonntag, 9. Juni, um 11 Uhr in der Stadtkirche in Schwetzingen statt.
  • Gestaltet wird er von Diakonin Margit Rothe, Christine Wolf aus dem Dekanatsteam und Diakonieleiterin Nadine Bikowski.
  • Musikalisch wird der Gottesdienst begleitet vom Bezirksbläserkreis unter der Leitung von Sven Ebbinghaus und Klaus Bernhard.
  • Im Anschluss gibt es vor der Kirche einen Empfang und Informationen über Projekte des Diakonischen Werks.
  • Spenden für den „Sozialfonds – Armut bekämpfen“ an: Diakonisches Werk im Rhein-Neckar-Kreis, Evangelische Bank eG Karlsruhe, IBAN: DE24 5206 0410 0000 5080 47, Verwendungszweck: Spende Sozialfonds – Armut bekämpfen. nl

Sinkende Lebenshaltungskosten oder steigende Sozialbeiträge - wie lautet die Lösung?

Bikowski: Ich habe keine Lösung dafür. Unsere Politiker sollten sie haben. Ich denke, dass die Bundesländer wissen, dass es diese Probleme gibt. Wahrscheinlich müssten die Gehälter der Arbeitnehmer steigen. Es kann ja nicht sein, dass das Jobcenter das ausgleicht und die Sozialhilfen steigen. Man müsste vielleicht alternative Wohnideen entwickeln. Die verrückte Idee wäre: Junge wohnen gemeinsam mit älteren Menschen, die auch Hilfe brauchen, in einer WG und so bedingt das eine das andere und die Wohnkosten sinken. Dafür muss aber erst ein Umdenken stattfinden. Wenn man sich den demografischen Wandel anschaut, müssen wir in der Gesellschaft langsam unser Denken verändern.

Sie leisten dringend benötigte Hilfe für Bedürftige. Erinnern Sie sich an besondere Momente der Dankbarkeit bei ihren Klienten?

Bikowski: Es gibt sehr viele, die sich auf ihre Art und Weise immer wieder bedanken - ob mit Süßigkeiten oder per Anruf. Dankbar sind viele Klienten, wenn sie Beihilfen von uns bekommen oder Gutscheine von der Schwetzinger Tafel. Wenn die Sozialarbeiter nach langem Ringen etwas für sie erreicht haben, ist das auch immer schön.

Können Sie auch von negativen Erfahrungen berichten?

Bikowski: Durch die Spendengelder können wir Beihilfen aus unseren Fonds zahlen. Staatliche Beratungen machen das nicht. Es spricht sich herum, dass das Diakonische Werk Beihilfen auszahlt. Das kann auch mal ausgenutzt werden. Falls das wiederholt passiert, werden die Beihilfen eingestellt. Wenn die Erwartungen und Forderungen der Klienten von uns Sozialarbeitern nicht erfüllt werden, kann es auch mal laut werden. Die Sozialarbeit ist aber kein Erfüllungsgehilfe, sondern eine Hilfe zur Selbsthilfe. Dass Klienten laut schimpfend aus unserer Dienststelle stapfen, passiert aber zum Glück selten.

Mehr zum Thema

Basareinnahmen

Zonta-Club Schwetzingen spendet für unbürokratische Hilfe

Veröffentlicht
Von
Noah Eschwey
Mehr erfahren
Evangelische Kirchengemeinde

Soziales Miteinander bei evangelischer Kirchengemeinde Hockenheim

Veröffentlicht
Von
Jakob Roth
Mehr erfahren
Im Gespräch

Paul Hafner tritt in Schwetzingen in die Fußstapfen von Detlev Helmer

Veröffentlicht
Von
Nicolai Lehnort
Mehr erfahren

Was genau planen Sie für den Jubiläumsgottesdienst zu 50 Jahren Diakonie am Sonntag?

Bikowski: Wir haben uns aus Sicht der Klienten je eine Frage zu den Themen überlegt, die uns am meisten beschäftigen. Darauf wird die Predigt von Schuldekanin Christine Wolf aufbauen. Grundsätzlich sollen die Besucher einen Eindruck bekommen, was bei uns in der Diakonie täglich passiert. Unter dem Motto „Was können wir für Sie tun?“ wollen wir aufzeigen, mit welchen Problemen die Menschen sich an uns wenden. Den Gottesdienst gestalten wir in Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde Schwetzingen und dem Dekanat. Danach gibt es vor der Kirche einen Empfang mit Häppchen und Musik. Dort stellen wir auch aktuelle Projekte wie das Elterncafé und den Kinderförderfonds vor.

Runde Geburtstage sind immer auch ein Anlass vorauszuschauen. Was wünschen Sie sich in Zukunft für die Diakonie?

Bikowski: Ich würde mir mehr Mitarbeitende wünschen, damit wir alle Anfragen bedienen könnten oder die Mitarbeiter mit den vorhandenen Mitteln wenigstens halten können. Wenn man gutes Personal behalten will, muss es eben bezahlt werden. Aber die Stellen müssen finanziert werden und die Mittel der Kirche werden immer knapper. Wir befinden uns hier in einem Strukturprozess (Anm. d. Red.: gemeint ist die Pfarrei Mittlere Kurpfalz) und unterm Strich wird da auch an Gebäuden und Stellen gespart.

Volontariat Nicolai Lehnort ist seit Juli 2023 Volontär.

Copyright © 2025 Schwetzinger Zeitung

VG WORT Zählmarke