Schwetzingen. Vier Millionen Menschen in Deutschland sind depressiv. Eine Zahl, die nachdenklich stimmt. Denn letztlich leidet nicht nur der Betroffene selbst unter dieser Erkrankung, sondern häufig auch sein Umfeld. Und das Schlimme: Depressionen können zu Selbsttötungsgedanken und schließlich auch zu Suizid führen. Gern sprechen tut man darüber freilich nicht. Doch es ist wichtig, sagt Professor Dr. Markus Schwarz. Er ist Chefarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie I des Psychiatrischen Zentrum Nordbaden in Wiesloch und Gast einer Veranstaltung des Bündnisses gegen Depression Rhein-Neckar Süd an diesem Mittwoch, 20. September, um 18.30 Uhr im Palais Hirsch in Schwetzingen. „Was hält mich, wenn ich mein Leben nicht mehr aushalte?“ ist der Abend überschrieben, bei dem Suizidalität aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden soll. Wir haben mit Professor Dr. Markus Schwarz im Vorfeld über die Thematik gesprochen.
Herr Professor Schwarz, warum ist es wichtig, das Thema Depression und Suizidgefährdung aus dem Dunkeln ins Alltagslicht zu holen?
Professor Dr. Markus Schwarz: Suizide sind nach wie vor traurige Realität. Die gute Nachricht: Die Häufigkeit von Suiziden ist deutlich zurückgegangen; mit Blick auf die zurückliegenden 40 Jahre sogar um die Hälfte. In den frühen 1980er Jahren hatten wir noch um die 18 000 Suizide pro Jahr – DDR und BRD zusammengenommen – und heute sind wir erfreulicherweise auf einem Niveau von 9000.
Wie lässt sich das erklären?
Schwarz: Es gibt verschiedene Überlegungen, womit das zusammenhängen könnte. Als Arzt schaut man natürlich, was hat sich medizinisch getan. Das Verständnis für Depressionen ist gewachsen und damit wurde auch deren Behandlung besser. Der Rückgang geht einher mit der Zunahme an Verschreibungen von Antidepressiva. Sicher gibt es auch noch eine ganze Reihe von weiteren Faktoren. Nachgewiesen ist zudem, dass die Bevölkerung und auch Hausärzte besser über das Thema Depression aufgeklärt sind. Das hat auch etwas mit einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit zu tun. Reden über Depression und Suizid hat die Wahrnehmung geschärft und die Möglichkeit für Hilfe erhöht.
Können Sie anhand von drei Faktoren nennen, woran man selbst erkennen kann oder auch andere erkennen können, dass man beziehungsweise jemand in einer Depression steckt?
Schwarz: Nehmen wir drei Faktoren – erstens: Stimmung, zweitens: Energie und Antrieb sowie drittens: Interessen. Fangen wir mit der Stimmung an: Depression ist eine Herabstimmung und ein Verlieren von positivem Gefühl. Das ist nicht „mal schlecht drauf sein“, das ist herabgestimmt sein, egal, was außen herum passiert. Positive Gefühle kann ich selbst dann nicht mehr empfinden, wenn etwas Nettes, Freundliches passiert. Ich fühle mich innerlich wie versteinert. An der Stelle hilft auch kein Schulterklopfen. Energie- und Antriebsverlust: Ich kann nicht mehr meine Aufgaben erfüllen, ich komme morgens nicht mehr aus den Federn heraus. Ja, so geht es uns allen einmal, aber Antriebsverlust bei Depressionen fühlt sich so an, als ob meine Akkus keine Energie mehr haben. Ich kann keine Aufgaben mehr als Familienvater und Arbeitnehmer erfüllen. Das führt zum dritten Punkt: dem Nachlassen von Interessen und was sonst Freude macht. Hobbys werden aufgegeben, ich kann der Arbeit nichts mehr abgewinnen, Vergnügungen, inklusive Sexualität verlieren ihre Bedeutung.
Und wann gelte ich dann als krank?
Schwarz: Von einer krankheitswertigen Depression spricht man, wenn die genannten Faktoren länger als zwei Wochen andauern.
Helfen immer Medikamente?
Schwarz: Bei leichtgradigen Depressionen kann es sinnvoll sein, keine chemischen Medikamente zu nehmen, weil die immer auch Nebenwirkungen haben können. Hier hilft eine Beratung und Psychotherapie. Anders ist es bei mittelgradiger und schwerer Depression, wenn die genannten Faktoren da sind und vielleicht noch andere Phänomene dazukommen wie Schuld-, Angst- und Suizidgedanken oder Konzentrationsstörungen. Schwere Depression kann zu Lebensgefahr führen, hier sind Medikamente – ergänzend zur Psychotherapie – oft unverzichtbar. An dieser Stelle würde ich gern drei Botschaften bringen, darf ich?
Ja klar.
Schwarz: Erstens: Zu jedem Zeitpunkt sind in Deutschland vier Millionen Menschen depressiv erkrankt, die wenigsten davon erhalten eine qualifizierte Behandlung. Dies ist die Ursache für Krankschreibungen, frühe Verrentung und auch viel Elend in der Familie. Zweitens: Depression ist gefährlich! Sie kann zu Suizidversuchen führen, bei schwerer Depression sehen wir eine Suizidsterblichkeit von sechs bis acht Prozent, das ist richtig viel. Der dritte Punkt: Depressionen sind richtig gut behandelbar, viel besser als früher. Durch geeignete Therapien und eben zum Teil mit Medikamenten ist eine Menge zu erreichen. Die drei Mantras zusammengefasst: ganz häufig – ziemlich gefährlich – gut behandelbar.
Sind Depressionen gleichzusetzen mit einem Burnout?
Schwarz: Ein Burnout ist gleichzusetzen mit einer Metapher für arbeitsbezogene Belastungen: Ich habe viel gearbeitet und kann mich nicht mehr gut regenerieren. Das kann der Einstieg in eine Depression und auch eine Angsterkrankung sein. Burnout ist also ein arbeitsbezogenes Phänomen und keine Krankheit an sich. Es ist jedoch ein Warnsignal.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Menschen, die Suizide in ihrem Umfeld erlebt haben, sich mit Gewissensbissen plagen, warum sie zum Beispiel nicht erkannt haben, dass ein Verwandter oder Freund in einer solchen Krise steckt. Kann man so etwas überhaupt „erkennen“?
Schwarz: Das ist ganz schön schwierig. Und nicht selten erleben wir das, dass es zu Suiziden kommt, ohne dass jemand damit gerechnet hätte. Wir haben dann auch mit den Angehörigen zu tun, die selbst in eine Depression hineinkommen, weil so viele Fragen offenbleiben. Das Thema ergibt sich vor allem bei Männerdepressionen. Männer – gerade ältere, alleinstehende – stellen eine Risikogruppe dar, weil sie ein anderes Hilfe-Such-Verhalten und ein anderes Artikulationsverhalten als Frauen haben, nach dem Motto, „ein Indianer kennt keinen Schmerz“. Frauen sind da anders, sie haben eher die Freundin zum Aussprechen. Männer dagegen neigen dazu, Dinge eher mit sich auszumachen. In den Statistiken gibt es auch doppelt so viele Männer, die Suizid begehen, als Frauen. Um zur Frage zurückzukommen: Depressionen kann man zum Beispiel erkennen, wenn in Gesprächen von Aussichtslosigkeit in Bezug auf die Zukunft die Rede ist, dass man keine Perspektive sieht oder unberechtigte Ängste entwickelt werden, wenn etwa der Besitzer eines florierenden Unternehmens in Verschuldungsangst gerät, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Daraufhin jemanden anzusprechen und mit ihm über diese Ängste zu reden, kann ein Schritt sein, ihn zu einem Hilfe-Such-Verhalten zu aktivieren.
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Das Besondere beim Podium in Schwetzingen wird sein, dass dort auch eine Betroffene sitzt, die aus ihrer Sicht die Gefühle darlegt. Wie wichtig ist Ihrer Ansicht nach ein solches Auftreten in der Öffentlichkeit?
Schwarz: Das ist eine Besonderheit, wenn uns ein Mensch in sein innerstes Seelenleben blicken lässt und davon berichtet, wie er in engster Bedrängnis war. Das ist nicht nur für das Publikum großartig, sondern auch für mich als Mediziner. Denn nicht immer, wenn man zu helfen versucht, tut man auch das Richtige.
Was hat Ihrer Meinung nach die Pandemie und deren Einschränkungen mit Menschen gemacht? Gibt es hier einen Anstieg an Depressionen zu verzeichnen?
Schwarz: Die schweren Depressionen sind nicht seltener und nicht häufiger seitdem. Was es aber gibt, ist, dass Menschen, die zu Depressionen neigen oder dies früher schon gehabt haben, von wichtigen Ressourcen abgeschnitten worden sind. Die sozialen Kontakte wurden runtergefahren und damit fehlte ihnen genau das, was gegen Depression hilft: Soziale Kontakt, Stimulation von Lebensfreude ist gerade das, was Menschen mit einer chronischen Depression auf die Beine hilft. Hilfsangebote und Kontaktkreise – gerade auch für ältere Menschen, die ein besonderes Risiko haben – mussten zurückgefahren werden, was zu Schwierigkeiten geführt hat.
Können Sie als Facharzt sagen, welche Berufsgruppe – sowohl alters- und geschlechterspezifisch – am häufigsten depressiv in den Statistiken auffällt?
Schwarz: Tatsächlich stehen Ärzte da an der Spitze und tragischerweise hier Ärztinnen. Das macht uns Medizinern selbst zu schaffen, weil wir depressive Erkrankungen bereits bei Medizinstudenten kennen, die unter einem hohen Druck stehen. Wenn da die Balance nicht stimmt mit einem guten Umfeld, mit Freunden und einer ausgeglichenen Lebensbalance, dann ist das ein Risikofaktor. Hochrisikogruppen für Depression sind darüber hinaus ältere alleinstehende Menschen – besonders Männer, Menschen mit Suchterkrankungen und Personen mit chronischen Schmerzen.
Warum sollte man unbedingt das Podium besuchen?
Schwarz: Unbedingt sollte man gar nichts machen (lachen). Ich erinnere aber noch mal an die Zahlen: Vier Millionen Menschen in Deutschland sind depressiv und an diesen Menschen hängen Familien. Das Besondere des Podiums ist, dass wir miteinander ins Gespräch kommen. Es soll keine Frontalbeschallung werden, sondern ein Austausch. Und darauf freue ich mich sehr.
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