Schöffengericht

Nach Schüssen in Hockenheim im Januar 2023: Urteil gegen Sergej A.

Sergej A., ein vorbestrafter Mann, löst durch seine gewalttätigen Handlungen bei einem Familienstreit einen Polizeieinsatz aus. Er wurde nun vor dem Schöffengericht Schwetzingen verurteilt. Seine gefährliche und provokative Verhaltensweise führte zur Eskalation der Situation.

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Jürgen Gruler
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Vorm Eingang des Hauses sind noch die Spuren der medizinischen Erstversorgung des 37-Jährigen zu erkennen. © PR-Video/Rene Priebe

Hockenheim. Sergej A. wird von zwei Justizbeamten aus der JVA Mannheim gebracht und mit Schließen in den Gerichtssaal geführt. Er ist schmal geworden, sagt bei den Angaben zur Person, dass er wegen der Schüsse an der Schulter Schmerzen habe, seine Hand kaum bewegen könne, ihm die Milz entnommen worden sei und er an Lungenkrebs leide. Er wirkt ausgezehrt.

Mit seiner Mutter, der Oma und der Schwester war der junge Mann, der in Russland Jura studiert hatte, nach Deutschland übergesiedelt, ist deutscher Staatsbürger geworden, fand aber nie Halt. Mehrfach saß er wegen Diebstahls in Haft - typische Beschaffungskriminalität für seinen Drogenkonsum. Mit einer 36-jährigen Freundin wollte er dann neu anfangen, zog weg, sie wurde schwanger.

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Aber auch am neuen Wohnort wurde Sergej A. straffällig, sie kam zurück nach Hockenheim zu den Eltern, er folgte ihr. Von den fünf Jahren, die sie ein Paar waren, verbrachte Sergej fast drei Jahre im Knast. Sie machte Schluss, aber er wollte es nicht wahrhaben. Dann nahm das Drama seinen Lauf - am Ende stehen weitere drei Jahre Haft, zu denen Richterin Neuschl ihn am Dienstagnachmittag verurteilte.

Am Tag vor Heiligabend wird der 38-jährige Seregej A. aus der Haft entlassen. Am 25. Dezember taucht er bei seiner Freundin auf. Sie lässt ihn in die Wohnung, er darf die vierjährige Tochter sehen. Er wirft ihr vor, die Familie zu zerstören, sie sei eine Schlampe, weil sie einen anderen habe, es kommt zum Streit. In der Küche zieht er ein Messer aus der Besteckschublade, macht eine Stichbewegung in ihre Richtung, droht ihr. Dann geht er.

Freundin bestätigt vieles erst auf Nachfragen durch die Richterin

„Ich hatte Angst“, sagt die 36-Jährige jetzt auf dem Zeugenstuhl. Bei der Polizei hatte sie von zwei Messern gesprochen. Es ist ihr anzumerken, dass sie ihren Ex nicht zu sehr reinreiten will, vieles bestätigt sie erst nach dem Vorhalt aus den Polizeiakten durch die Richterin. Die fragt sie auch, warum sie ihn denn tags drauf wieder in die Wohnung gelassen habe, obwohl er sie bedroht hatte. „Ich weiß es selbst nicht“, sagt sie. Daraus schließt Verteidiger Hannes Gast später, dass es die erste Bedrohung mit dem Messer vielleicht gar nicht gegeben hat, weil es unlogisch sei, ihn tags drauf wieder reinzulassen nach so einem Erlebnis.

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Aber logisch ist in dieser Beziehung und in den ganzen Lebensverhältnissen sowieso wenig. Denn am Folgetag ist ein 17-jähriger Besucher bei der Mutter - einmal ist die Rede vom Bruder des neuen Freundes, dann wieder von einem Bekannten. Es ist der zweite Weihnachtsfeiertag, der Angeklagte kommt um 14.30 Uhr vorbei, klingelt, wird reingelassen, trinkt mit dem Bekannten Bier, unterhält sich mit ihm und der Mutter, spielt zwischendurch mit seiner Tochter, alles scheint in Ordnung.

Aber dann kommt es wieder zum Streit zwischen dem Paar. Der Bekannte erzählt bei seiner um Stunden verspäteten Zeugenaussage, dass sie sich geschubst hätten und Sergej ihr dann eine wuchtige Ohrfeige verpasst habe. Er habe sich in einem Zimmer versteckt und sei aus Angst vor dem größeren und stärkeren Kerl auch nicht mehr rausgekommen. Sehr wohl habe er dann aber den über einstündigen Streit gehört, er habe immer wieder Schlampe zu ihr gesagt und er vernahm mehrmaliges Klatschen von weiteren Schlägen.

Hat der 37-jährige Sergej A. mit Kindesentführung gedroht?

Er habe auch gehört, dass Sergej zu seiner Tochter gesagt habe: Morgen fahren wir zu deiner anderen Oma nach Russland“, sagte der 17-Jährige. Irgendwann sei der Kerl dann gegangen, die Frau habe im ganzen Gesicht Prellungen gehabt. Zum Abschied soll er ihr gedroht haben: „Ich bring dich um, wenn du die Bullen anrufst.“ Während der Angeklagte zugegeben hat, ihr zwei oder drei Ohrfeigen mit der flachen Hand gegeben zu haben, will er auch von ihr Schläge und Verletzungen zugefügt bekommen haben.

Sie sagte später bei der Polizei, wo sie Anzeige erstattete, aus, dass er sie etwa 50-mal geschlagen habe, ihr auf dem Boden liegend den Fuß auf den Hals gestellt und sie mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen sowie an der Badezimmertür gewürgt habe, sodass ihr kurz die Luft weggeblieben sei. In der Uniklinik Heidelberg hatte man Prellungen am Nasenbein, am Jochbein, am Schädel und an den Armen festgestellt - wohl kaum von zwei oder drei Ohrfeigen. Die Bedrohung, er werde sie umbringen, sieht der Verteidiger als nicht erwiesen an. Die Zeugin hat sie so bei der Hauptverhandlung auch nicht explizit wiederholt.

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Die Polizei ist ab jetzt involviert, holt Sergej A. zu einer sogenannten Gefährderansprache ins Revier. Der will dort am 29. Dezember sogar noch gegen seine Ex-Freundin Anzeige erstatten, weil sie ihn auch verletzt habe. Seine Aussage zum Vorwurf der Körperverletzung wird aufgenommen, er darf sich der Wohnung und der Angeklagten nicht mehr nähern. Aber das scheint ihm egal zu sein. Denn schon vier Tage später, am 2. Januar ist Sergej A. wieder vor dem Wohnhaus in der Hockenheimer Innenstadt.

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Diesmal hat er eine Tasche dabei mit Geschenken, auch ein Kinderfahrrad hat er untern Arm geklemmt. Er klingelt, aber die Kindesmutter lässt ihn diesmal nicht rein, sagt, er könne die Geschenke vor die Tür legen. Er will seine Tochter sehen, die Mutter verweigert das, wieder ist der 17-jährige Bursche vor Ort. Sergej tritt wütend gegen die Tür, als sie ihn nicht reinlässt. Der junge Mann sieht, dass er eine Waffe in der Hand hat und ruft die Polizei an: „Ich wollte nicht, dass es wieder so wird wie die Tage vorher“, sagt er jetzt vor Gericht aus. Die Frau hätte wohl eher nicht die Polizei gerufen und gehofft, dass Sergej freiwillig wieder abrückt.

Ich wollte nicht, dass es wieder so wird wie die Tage vorher.
17-jähriger Zeuge Er rief die Polizei

Geräusche vom Dachboden des Hockenheimer Wohnhauses

Die Polizei ist schnell vor Ort, nach wenigen Minuten treffen zwei Streifenbesatzungen ein, verschaffen sich einen Überblick, bemerken Geräusche auf dem Dachboden. Dort ist Sergej A. mit seiner Tasche, in der er noch Jägermeister und Bier hat - aber eben auch eine Pistole. Jetzt beginnt ein Alptraum für die Hausbewohner und für die Polizisten. In dem engen Flur mit der Holztreppe und vielen Absätzen geht es auf und ab. Vier Polizisten stehen mit gezogener Pistole eine oder zwei Absätze weiter unten, zünden mit Taschenlampe nach oben, nehmen Kontakt mit dem bewaffneten Bedroher auf.

Oberstaatsanwältin König fragt den Angeklagten, ob die Polizisten ihn aufgefordert hätten, die Waffe niederzulegen, er bejaht das, sagt auf Nachfrage, sie hätten es zwei- oder dreimal gesagt. Aber einer der Beamen trägt eine Körperkamera und nimmt alles auf. In dem 50-minütigen Film wird Minimum 200-mal gesagt: „Legen Sie die Waffe weg!“

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Die Beamten zeigen eine Engelsgeduld, sie reden auf den Angeklagten ein, versprechen, dass sie mit der Mutter und der Tochter sprechen, wenn er aufgibt. Sie machen ihm seine Situation klar und auch, dass er nicht aus dem Haus rauskommt und sie die Tochter nicht holen, wenn er die Waffe nicht hergebe. Zwischendurch nimmt er immer mal einen Schluck aus der Jägermeister-Flasche, dann kommt er wieder eine Treppe runter, zeigt sich den Beamten, hält in der rechten Hand die Pistole, dann reißt er seine Jacke auf, sagt mehrfach zu den Polizisten, sie sollten schießen.

„Wir wollen nicht auf Sie schießen“, sagt der Polizist immer und immer wieder. „Ihnen passiert nichts, wenn Sie uns die Waffe geben.“ „Wir wollen mit ihnen reden.“ Dann geht Sergej wieder nach oben, schließt die Tür des Dachbodens hinter sich, kommt wenige Minuten danach wieder raus - mit Waffe. Mindestens zehnmal legt er die Waffe neben sich auf den Boden, aber er wirft sie nicht nach unten in den Lichtschein der Taschenlampe, so wie der Polizist es fordert. In den USA wäre der Täter zu diesem Zeitpunkt wohl schon längst gezielt getötet worden.

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Dann plötzlich kommt Sergej A. mit der Waffe in der rechten und dem filmenden Handy in der linken Hand die Treppe runter. Die Polizisten weichen Absatz um Absatz zurück, sagen immer wieder, er soll die Waffe weglegen und stehen bleiben. Erst im Erdgeschoss, als er sich umdreht und zum Hinterausgang raus will und nochmals die Hand mit der Waffe Richtung Polizei streckt, schießen zwei der Beamten. Sergej A. wird von fünf Schüssen in Brust, Bauch und Beine getroffen, der Notarzt hat schon draußen gewartet.

Sie haben sich das selbst zuzuschreiben, Sie haben die Polizisten provoziert und zum Schießen gezwungen.
Richterin Sarah Neuschl bei der Urteilsverkündung

Später fällt Sergej für einige Tage ins Koma. Er leidet bis heute an seinen schweren Verletzungen: Richterin Neuschl sagt bei der Urteilsverkündung: „Das ist schlimm für Sie, aber Sie haben sich das selbst zuzuschreiben, sie haben die Polizisten provoziert und zum Schießen gezwungen. Sie konnten Sie nicht auf die Straße entkommen lassen. Dass es eine Spielzeugpistole war, haben Sie zwar einmal auf der Treppe gesagt, aber Ihr Verhalten war so, als ob sie echt ist.“ Sie schickt ihn für drei Jahre ins Gefängnis. Oberstaatsanwältin König hatte noch drei Monate mehr gefordert. Verteidiger Hannes Gast sah zwei der vier Taten nicht als erwiesen an, nur eine einfache Körperverletzung bei den Ohrfeigen und forderte ein Jahr Gefängnis.

Und nach den drei Jahren? Eine Frage, die sich sicherlich auch die Kindsmutter stellt. Richterin Neuschl sagt: „Sie wissen ja selbst nicht, wie es weitergehen soll. Aber Sie sind zu gefährlich, um auf freiem Fuß zu sein.“

Chefredaktion Jürgen Gruler ist Chefredakteur der Schwetzinger Zeitung.

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